Wolf Haas: Verteidigung der Missionarsstellung

Ein Feuerwerk der Einfälle

Im Vorbeihören hatte ich eine gute Kritik im Radio mitbekommen, deswegen landete der Roman bei mir.

Schon die ersten Seiten bereiten den puren Lesespaß, wenn der junge Benjamin Lee Baumgartner in London all seinen Mut zusammenfasst und eine junge Burgerverkäuferin mit den Worten „Verrate mir bitte nicht deinen Namen“ anspricht. Die erhoffte Romantik stellt sich nicht unmittelbar ein, dafür erfahren wir, wie höchst eloquent der junge Mann antworten könnte, wenn er denn den Mund aufbekäme. Aber auch mit seinen mundfaulen Äußerungen gelingt ihm ein Treffen mit der jungen Frau, die am übernächsten Tag ihren Aufenthalt in London beenden wird. Für 41 Stunden findet er hier seine Liebe. Das Thema, das die beiden einander näher bringt, ist die BSE-Krise. Sie wundert sich, dass er freiwillig einen Rinderburger isst, ahnt sie doch nicht, dass er Vegetarier ist und nur ihretwegen sein letztes Geld in den Burger investiert hat.

Das ist zunächst einmal eine vergnügliche Liebesgeschichte. Die Darstellungsweise bietet einiges an Überraschungen.

So sind die vermeintlichen Notizen des Autors sind zu lesen:

[LONDON-ATMOSPHÄRE – DANN BALD DIE LEUCHTSCHRIFTEN AUF DEN KRÄNEN DER BAUFIRMA MCALSPINE, DIE IN DER HEREINBRECHENDEN DUNKELHEIT AUFLEUCHTEN, UND ER IST DOCH AUCH EIN MCALPINE USW. ALLES ERKLÄREN]

Es geht aber auch so:

Diese Liedzeile ist Anlass für eine Auseinandersetzung darüber, wie 'one day‘ zu verstehen sei. Die Sprache, das Erzählen und die Fiktion[en] sind die Themen, die das erzählte Liebesgeschehen untermalen und begleiten.

Der Erzähler gibt sich als guter Freund Benjamins zu erkennen und erklärt, dass dessen Name zurückgeht auf Benjamin Lee Whorf, dessen Sprachtheorie auf einer Untersuchung der indianischen Hopi-Sprache beruhte. Das war in den 70er Jahren ein Knaller in der Linguistik und machte die Hopi bekannter als Whorf. Auch für Benjamins Mutter, die auf Hopi-Spuren nach Amerika reiste und schwanger zurückkehrte. Fortan gilt ihr Sohn als halber Indianer und wie ein running gag fühlt sich jeder, der ihm begegnet, an den Indianer aus dem Film „Einer flog übers Kuckucksnest“ erinnert. Dass sein Nachname der eines schweizer Linguisten ist, ist sicher kein Zufall. Zwar versichert uns der Ich-Erzähler, dass

Frei Erfundenes … in einem Roman oft überzeugender und realer [klingt] als die aus der Realität entlehnten Geschichten. Selbsterlebtes oder Begebenheiten, die einem jemand aus dem wirklichen Leben erzählt hat, wirken oft krampfhaft originell und erfunden. Das hängt einfach damit zusammen, dass sich erfundene Stoffe besser bearbeiten lassen, weil die Realität nicht den Erzählfluss stört. Vielleicht auch damit, dass wir gerade jene Geschichten aus dem wirklichen Leben gern anderen erzählen, in denen spektakuläre Zufälle eine wichtige Rolle spielen. In einem Roman wirken diese Zufälle konstruiert oder schlecht erfunden, in der Realität sind gerade sie es, die erst eine Geschichte erzeugen.

Aber der Leser folgt gerne gespannt seinen weiteren Berichten über Benjamin Lee Baumgärtner.

Der, so erfährt man, war zum Zeitpunkt seiner Londoner Liebesstunden gerade ein paar Tage verheiratet war und er ist es immer noch, als er 15 Jahre später im Jahr 2006 in Peking seinen zweiten coup de foudre erlebt. Diesmal geht es um die Vogelgrippe und ob sie ihn nun ergreift oder eine normale Grippe, jedenfalls befindet er sich mit einen Manon Flier in Peking und an diesem Ort

Währenddessen ist seine Noch-Ehefrau beunruhigt über sein Fernbleiben und sucht Rat und Hilfe beim Erzähler dieser Geschichte. Dort findet sie ein Manuskript, das Benjamins große Liebe in London zum Thema hat. Hier reichen sich Fiktion (1] und Fiktion [2] fröhlich die Hände und der Leser hat seinen Spaß an diesem Vexierspiel, weiß er doch, dass dem Erzähler das Manuskript nur fiktiv ‚über den Schädel gedroschen‘ wird.

Und wenn die Geschichte in der Geschichte noch einmal auftaucht, dann sieht das so aus:

Damit ist die Ehe von Benjamin Lee Baumgärtner zu Ende.

Aber glücklicherweise noch nicht der Roman, denn es wartet noch eine weitere große Liebe auf Ben. Kein Zufall, dass er sich zu diesem Zeitpunkt auf einer Sprossenfarm in Bienenbüttel aufhält und die Zeitungen voll sind vom EHEC-Thema…

Schade, dass auf Seite 239 der Roman zu Ende ist. Aber es gibt einen Grund, gleich wieder von vorne anzufangen, denn der Erzähler meint:

„Ich finde, wenn man erst einmal den Namen weiß, ist der Zauber schon zerstört.“ Sagte er. Sagte sie. Hätte er fast gesagt. Der Anfang ist immer am leichtesten.“

Wahrscheinlich sind beim zweiten und dritten Lesen noch viele Einzelheiten zusätzlich zu entdecken über die hinaus, die hier nicht genannt sind.

Ach ja, der Titel: Da muss man nur ziemlich „ungefährgenau“ die Mitte des Buchs aufschlagen.

28.11.2012