Javier Marías: Die sterblich Verliebten

Endlich ...

wieder einmal ein Stück ganz großer Literatur, das alle intellektuellen und sinnlichen Lesebedürfnisse befriedigt.

Der Inhalt ist spannend und soll nur in Andeutungen dargelegt werden: Eine Erzählerin beobachtet jeden Morgen in einer spanischen Bar ein Paar beim Frühstück. Sie scheinen eine ideale Beziehung zu führen. Dann wird der Mann brutal erstochen. Die Erzählerin bleibt der Frau und ihrer Trauer eng verbunden und gerät nach einem Treffen mit ihr in Ereignisse, die sie in Kontakt mit den Mördern des Mannes bringen.

Dieses Erzählgerüst wird von einem Autor gefüllt, dem es gelingt, all die flüchtigen Eindrücken und Überlegungen, die jedem von uns durch den Kopf schießen und dann schnell verflogen sind, festzuhalten und ihnen Form und Gestalt zu geben. Dabei mäandern die Sätze ins Endlose, ohne jemals ihren Faden zu verlieren. So wird den Gefühlen der Trauernden nachgespürt und auch den höchst fragwürdigen Informationen, die die Erzählerin im Verlauf der Geschichte erhält.

Verknüpft wird diese fiktive Geschichte mit etlichen anderen aus der Literatur, darunter auch Balzacs „Oberst Chabert“. Darin wird erzählt, dass ein nach einer Schlacht tot geglaubter Mann überlebt und nach langer Genesung die Leben derjenigen durcheinander bringt, die sich mit seinem Tod abgefunden und ein neues Leben angefangen haben. Hier wird gezeigt, wie tröstlich es sein kann, sicher zu sein, dass die Toten nicht wiederkehren und den Lebenden den Weg zu einem Weiterleben ebnen.

Durch diese doppelte Fiktion wird auch deutlich, dass die Geschichten, die zur Erklärung des Mordes dienen sollen, vielleicht auch nur Fiktion sind, dass sich ihr Wahrheitsgehalt nicht ergründen lässt.

Es ist etwas ganz anderes, den Tod direkt zu verursachen, sagt der, der nicht zur Waffe greift (und unwillkürlich folgen wir seinem Gedankengang), als ihn in die Wege zu leiten und zu warten, dass er von alleine kommt und einem in den Schoß fällt, oder als ihn zu wünschen oder zu befehlen, und manchmal verwischen sich Wunsch und Befehl und sind für die nicht mehr zu unterscheiden, die es gewöhnt sind, dass ihnen Ersterer erfüllt wird, sobald sie ihn nur ausgesprochen oder angedeutet haben, oder Letzterer ausgeführt wird, sobald er ihnen in den Sinn gekommen ist. Deshalb machen sie die Mächtigsten und Verschlagensten niemals die Hände schmutzig, ja oft nicht einmal die Zunge, denn es steht ihnen offen, sich an Tagen, da sie besonders selbstgefällig sind oder das Gewissen sie besonders plagt und triezt, zu sagen: ‚Ach, schließlich war ich es ja gar nicht. War ich etwa dabei, habe ich zur Pistole gegriffen, zum Löffel, zum Dolch, was auch immer ihn umgebracht hat? Ich war nicht einmal da, als er gestorben ist.‘

So bleibt auch der Erzählerin am Ende nichts anderes, als die Toten verblassen zu lassen und den Lebenden ihr Leben zuzugestehen.

Noch eine Leseprobe für die Wort- und Bildverliebten:

Ja, alles verhallt, aber zugleich verschwindet nichts, nichts vergeht je ganz, es bleiben schwache Echos, scheue Nachklänge, die jederzeit auftauchen können wie Bruchstücke von Gedenksteinen im Saal eines Museums, das niemand besucht, leichenhaft wie die Ruinen eines Tympanons mit durchbrochener Inschrift, vergangene, stumme Materie, fast unentzifferbar, fast ohne Sinn, absurde Überreste, die man zwecklos aufbewahrt, denn zusammensetzen kann man sie nicht mehr, sie sind inzwischen mehr Verdunkelung als Erhellung, weit mehr Vergessen als Erinnerung. Und doch sind sie noch da, niemand zerstört sie, niemand vereint sie mit ihren zerstreuten, vor Jahrhunderten verlorenen Teilen: Sie sind noch da, als kleiner, gehüteter Schatz, als Aberglaube, als wertvolle Zeugen, dass jemand einmal lebte, dass er starb und einen Namen hatte, auch wenn er nicht vollständig erhalten ist, seine Rekonstruktion unmöglich wäre und dieser Jemand, der niemand ist, niemandem etwas bedeutet. Miguel Desverns Name wird niemals ganz verschwinden, auch wenn ich ihn nie kennengelernt habe, ihn nur voll Wohlgefallen Morgen für Morgen aus der Ferne sah, während er mit seiner Frau frühstückte. Ebenso wenig werden die erfundenen Namen wie Oberst Chabert und Madame Ferraud ja ganz verschwinden, die vom Grafen de la Fère und Mylady de Winter, Anne de Breuil in ihrer Jugend, der man die Hände auf den Rücken gebunden und die man an einem Baum aufgehängt hatte, woran sie geheimnisvollerwiese nicht starb, sondern zurückkehrte, schön wie die Liebe oder die Verliebtheiten. Ja, die Toten tun schlecht daran, zurückzukehren, und doch tun es fast alle, sie geben nicht klein bei, ringen darum, den Lebenden zum Ballast zu werden, bis diese sie abschütteln, um voranzuschreiten. Dennoch beseitigen wird niemals alle Überreste, können die vergangene Materie niemals wirklich und für immer zum Verstummen bringen ….

09.05.2012