Melinda Nadj Abonji:
Tauben fliegen auf

Gar nicht so leicht über einen Roman zu schreiben, der mich tief beeindruckt hat. Es ist die Geschichte einer Ich-Erzählerin Ildikó, die in der Schweiz lebt, ihre Wurzeln aber in Serbien hat, wo sie als Teil einer ungarischen Minderheit ihre ersten Lebensjahre verbracht hat. In ihrer Kindheit auf dem Dorf erlebt sie eine heile, behütete Welt zwischen den Jahren nach Titos Machtergreifung und dem totenreichen Zerfall des Völkergebildes Jugoslawien. Als ihr Vater sich entschließt, in die Schweiz zu gehen, muss sie mit Mutter und Schwester noch eine Weile in ihrer Heimat bleiben, bevor sie mit ihnen nachziehen kann. Von nun an erlebt sie ihr Leben zwischen den Welten. Die regelmäßigen Besuche in ihrer alten Heimat machen ihr die Trennung vom Leben dort umso deutlicher.

Unsere Familien mütterlicherseits und väterlicherseits, die unter Steinplatten begraben liegt, schlimmstenfalls fehlen die Blumen, die gelben und rosaroten Rosen, die Gladiolen, aber die Gräber mit Steinplatten überdeckt, verwahrlosen nicht, auch wenn sie niemand besucht, auch nicht an Allerheiligen, sagte meine Mutter, wenn irgendeine Cousine sie anruft, ihr mit gepresster Stimme mitteilt, dass ausser ihr niemand auf dem Friedhof war, um ein Lämpchen für die Verstorbenen anzuzünden, wenigstens verwahrlosen die Gräber nicht, sagt meine Mutter dann, und in diesem Satz steckt die tiefe Trauer eines Lebens, das sich nicht einmal um die Toten kümmern kann, weil sie zu weit weg sind, um ihnen wenigstens einmal im Jahr, an Allerheiligen, Blumen hinzustellen.

In der Schweiz lebt die Familie ein vordergründig normales und angepasstes Leben. Die Kinder besuchen die Schule und in den ersten Jahren finden die Eltern zahlreiche Arbeitsstellen und schaffen auch die ‘Aufnahmeprüfung’ in die Schweiz. Sie betreiben einen kleinen Wasch- und Bügelbetrieb, bis es ihnen gelingt, ein Café zu übernehmen. Mittlerweile hat die Erzählerin ihr Abitur gemacht und ein Studium begonnen, das sie aber unterbricht um in diesem Café Mondial zu arbeiten.

Von unseren Verwandten könnte niemand hier arbeiten, im Mondial, denke ich an diesem kalten Märztag, ich, stundenlang Milch schäumend (so kommt es mir vor), weder im Service noch im Buffet könnten Tante Manci und Tante Icu arbeiten, egal wie gekonnt ihre Arbeit mit den Händen ist, und dieser Gedanke hat einen unangenehmen Ton, bin ich davon ausgegangen, dass sie irgendwann hier bei uns arbeiten?, meine Onkel, die mit ihrem je speziell schadhaften Gebiss jeden Gast misstrauisch machen würden, denen wir unmöglich beibringen könnten, ihr Zahn-Zahnlücke-Lachen zu verstecken; Csilla, Tante Icus und Onkel Piris Tochter, die jetzt Mitte dreissig ist, an einer Hautkrankheit leidet, keinen einzigen Zahn mehr im Mund hat und auch kein Geld für ein Gebiss …

Während das Leben in der Schweiz seinen friedlichen Gang geht, werden für die Protagonistin die Geschichten aus der Heimat und die Kriegsgeschehnisse dort immer wichtiger und sie entfaltet ein Kaleidoskop manchmal skurriler, dann auch wieder tieftrauriger Familien- und Dorfgeschichten.
Dabei ist sie sich aber auch immer wieder bewusst, wie sehr das Leben und die Sprache zueinander gehören. Mit Bezug auf ihren Vater, der erst im Erwachsenenalter die Vojvodina verlassen hat, sagt sie:

Wenn nämlich bereits ein Wort keine Entsprechung findet, wie soll dann ein halbes Leben in der neuen Sprache erzählt werden?, dann kann nur das Schweigen oder die verkürzte, dramatische Form des Fluches davon erzählen, wie es gewesen ist, wie es gewesen sein könnte;…

Der geografisch entfernte Krieg kommt auch der Erzählerin nah, sie verliebt sich in einen Kroaten, der den Kämpfen nicht entrinnen konnte und der nun mit seinen Erinnerungen leben muss:

Weisst du, wie das ist, wenn du deinem besten Freund eine Kugel in den Kopf schiesst, und dann siehst du dir sein Gesicht in aller Ruhe an, ohne dass du auch nur das Geringste empfindest? Und dann erschlägst du sein Gesicht, das Gesicht deines besten Freundes im Traum, weil es dich verfolgt mit seiner ruhe, seiner Stille, weil er dir sogar verzeiht, du musst ihn nochmals töten, weil er dich verrückt macht mit seinem erlösten Gesicht, …

Neben diesem in die alte Heimat eingebundenen Leben gibt es ein anderes, den Versuch, eine normale junge Erwachsene in der Schweiz zu sein, deren Sprache sie spricht, wo sie in Discos geht, sich mit Freunden trifft, ohne dabei jemals heimisch zu werden. Als sie nach einem verstörenden Ereignis im Mondial beschließt, eine eigene Wohnung zu suchen und sich eine eigene Lebensperspektive zu erschließen, stößt sie auf die Verbitterung der Eltern, die ihr eigenes Leben hintangestellt haben für die Töchter und die nicht verstehen können, dass der Lebensweg der Tochter sich nicht nahtlos in ihre Wünsche einfügt. Mit Verbitterung halten sie der Tochter vor:

Weisst du eigentlich, wo wir angefangen haben?, die gesichtslosen Tage, fast vier Jahre lang, als die Tage nur dazu da waren, um wie Automaten zu funktionieren, zu arbeiten, Vater als Metzger bei Herrn Fluri und als Metzger auf dem Schlachthof, ich als kassiererin, Kindermädchen, und sonntags haben wir gemeinsam Banken geputzt. In dieser Zeit, Ildi, habe ich nie geträumt, nie, sonst wäre ich verloren gewesen …

Die Eltern haben sich durchgesetzt in ihrem Exil und sind doch nicht angekommen in der neuen Welt. Mit dem hart erarbeiteten Wohlstand haben sich ihre Seelen nicht versöhnen lassen, die immer noch in der alten Welt leben:

Aber erst an dem Tag, als ich meine Sachen in die Kartonschachteln packte, ahnte ich, dass es noch um viel mehr ging: Um eine tiefe Scham, die Mutter und Vater wahrscheinlich für meinen Auszug empfanden, was würden unsere Verwandten sagen?, in ihren Augen konnte ich lesen, dass mein persönlicher Aufbruch für sie die Abkehr von der Familie bedeutete, und dafür fühlten sie sich verantwortlich, nicht nur ein bisschen, sondern ganz …

Die Sprache der Autorin ist höchst bemerkenswert. Ihre unendlich langen Sätze fließen und überbrücken die Grenzen von Zeit und Raum, ost- und westeuropäischem, dörflichem und städtischem Erleben. Und es ist eine sinnliche Sprache, die immer auch Zeit findet für das Unauffällige, Nebensächliche, das so Bedeutung gewinnt. Auch für die wachsende Entfremdung von sich selbst findet die Autorin eine überzeugende Formel: „Sie, die ich ist.” So spricht sie immer häufiger von sich selbst. Aber wie soll auch eine Identität aussehen, die so zerrieben ist zwischen den Zeitläuften. Dazu noch ein längerer Auszug:

… seit wann kannst du nicht mehr anrufen, frage ich Dragana. Seit diese gottlosen krieger, meine Serben!, angefangen haben, von den Bergen zu schiessen. Ich schwöre dir, die machen mit uns, was sie wollen, erzählen uns, dass wir uns schon immer gehasst haben, die Serben, Kroaten und Muslime, ja, das würde ich gern glauben, glaubt ja niemand, der Herz hat, wir sind alle Bosnier, glaubsch mir?, alle ihre Verwandten, die sich immer als Bosnier gefühlt hätten, so Dragana, werden jetzt als bosnische Serben bezeichnet, ihre Stadt, die sie lieben, die von Serben belagert wird, von Serben und Kroaten und Muslimen beschossen wird (und wenn es einen Irsinn gibt im Kopf, dann dreht er sich immer schneller, er dreht sich rasend schnell um solche Begriffe), und Dragana fingert nach den Spargeln in der Dose, und dabei möchte ich wissen, warum sie auf dem Mond gelandet sind, Ildikó, die Politiker muesch doch alle in ein Rakete inestopfe und uf Mond ufeschüsse, und wenn sie dann noch genügend Benzin haben, können sie weiterfliegen, damit sie endlich ihren richtigen Gott finden, uns in Ruhe lassen, und Dragana spricht immer schneller, ihr Gemisch aus Schweizerdeutsch und Hochdeutsch, das sich immer mehr im serbokroatischen Singsang verliert, Draganas Konsonanten, die miteinander zu tanzen scheinen, Sarajevo ist bald ganz tot, wird sehen, und sie bestreicht eine Toastscheibe mit Senf, belegt sie mit Schinken und Käse, das Ei hüpft inzwischen im heissen Wasser, warum glaubt jeder in Welt, wir Serben sind Menschenfresser, Ildi?, und Dragana klemmt das belegte, bestrichene Toastbrot in den Toaster, Dragana und ich, zwie Tiere, die sich in die Augen schauen, wir, die Todfeinde sein müssten, weil Dragana bosnische Serbin ist oder serbische Bosnierin? Und ich zur ungarischen Minderheit in Serbien gehöre (der Irrsinn, der sich weiter dreht, in meinem Kopf, in allen Köpfen), und es ist absurd und absolut möglich, dass einer meiner Cousins desertiert, weil er als Ungar nicht in der jugoslawischen Volksarmee kämpfen will, es kann sein, dss ihn einer von Draganas Cousins erschiesst, weil er bei der jugoslawischen Volksarmee kämpft und Deserteure erschossen werden; es kann aber auch sein, dass einer von Draganas Cousins desertiert, weil er sich als Bosnier fühlt, als bosnischer Serbe nicht in der jugoslawischen Volksarmee kämpfen will, es kann sein, dass mein Cousin Draganas Cousin erschiesst, weil mein cousin nicht desertiert ist, für die jugoslawische Volksarmee kämpft, um vielleicht sein eigenes Leben zu retten; aber möglicherweise werden beide erschossen, von einem Muslimen, einem Kroaten, einem Blindgänger, von einer Mine zerfetzt, irgendwo, an einem unbekannten Ort, im Niemandsland, während wir hier zusammen Brötchen streichen, in unserer Küche.

Das sind zwei Sätze. Der erste umfasst zehn Wörter.

Wer sich davon einfangen lassen kann, dem wird nach mehr als zwanzig Jahren der Krieg auf dem Balkan näher kommen als in der Vergangenheit, nicht in seiner militärischen und politischen Dimension, die selbst den Beteiligten verschleiert bleibt, aber in seiner menschlichen.

26.11.2010