Ferdinand von Schirach: Tabu


Sobald sich das Licht der Farben
Grün, Rot und Blau
in gleicher Weise mischt
erscheint es uns als Weiß
(Farbenlehre nach Helmholtz)


Dieses Zitat ist dem Roman vorangestellt. Und diese Farben bezeichnen auch seine Abschnitte.
Unter der Überschrift 'Grün' kann der Leser die Lebensgeschichte eines Fotokünstlers von der Kindheit bis in sein mittleres Alter verfolgen. In einer Sprache, die jeden Schnörkel vermeidet und fast schmerzhaft präzise ist, erfährt der Leser von einer Mutter, die für ihren Sohn keinerlei Freundlichkeit empfinden kann, von einem Vater, der sich den Kopf wegschießt und so von seinem Sohn gefunden wird, von dessen Ausbildung zum Fotografen und schließlich zum Künstler.
Bei 'Rot' beginnt ein Kriminalfall; eine junge Frau ist entführt und möglicherweise ermordet worden. Als Verdächtiger wird der Fotokünstler befragt, der eine Aussage verweigert. Und während der Vernehmung geschieht das Folgende:

„Du hast es so gewollt“, sagte der Polizist. „Ich werde es dir zuerst erklären. Du sollst genau verstehen, was ich mit dir machen werde.“
Landau (der Staatsanwältin) wurde klar, dass die Situation entgleiste. Später dachte sie oft an den Moment. Sie fragte sich dann, ob sie es hätte verhindern können. Aber sie kam immer wieder zu dem gleichen Schluss: Sie hatte es nicht verhindern wollen.
„Heute“, sagte der Polizist. „macht man es nicht mehr mit Elektroschocks an den Hoden oder mit Messern oder mit Schlägen. Das gibt es nur noch in Hollywood. Alles, was ich brauche, ist ein Küchenhandtuch und ein Eimer Wasser. Es geht schnell. Wir sind hier allein, du Schwein, die anderen sind draußen und suchen das Mädchen. Später wird dir niemand glauben, was passiert ist. Du wirst keine Verletzungen haben, keine Narben, du wirst nicht bluten, alles passiert in deinem Gehirn..."

Im folgenden, mit 'Blau' bezeichneten Kapitel, tritt ein Anwalt auf den Plan, der die aussichtslos scheinende Verteidigung unternimmt. Sein Credo ist das folgende:

Ich habe irgendwann begriffen, dass der Mensch nur sich selbst gehört. Nicht einem Gott, nicht einer Kirche, nicht einem Staat – nur sich selbst. Das ist seine Freiheit. Sie ist zerbrechlich, diese Freiheit, empfindlich und verwundbar. Nur das Recht kann sie schützen.

Wie gefährdet diese Freiheit ist, wird in einer grandiosen Gerichtsszene deutlich. Der Polizist, über dessen Folterandrohung eine Aktennotiz geschrieben wurde, glaubt, gute Argumente für sein Handeln zu haben, wollte er doch so erreichen, dass der Aufenthaltsort der möglicherweise noch lebenden Verschwundenen so ans Licht kommen könnte. (Die Parallele zum Daschner Prozess ist nicht zufällig.) Hier wird die Absurdität des vermeintlichen gesunden Menschenverstandes mit aller Schärfe vor Augen geführt.

Auch der Entführungsfall findet seine überraschende Aufklärung, die hier nicht verraten werden soll.
Drei Geschichten, die sich überlagern und im nur knapp zweiseitigen Kapitel 'Weiß' enden. Es ist ein friedliches und zukunftsträchtiges Bild, aber auch ein gefährdetes:

Wir glauben, wir wären sicher, die Liebe wäre sicher und die Gesellschaft und die Orte, an denen wir wohnen. Wir glauben daran, weil es anders nicht geht.

Und so findet sich auch die Erklärung für den etwas reißerisch daherkommenden Titel, der in Verbindung mit dem Cover den Leser zunächst auf die falsche Fährte setzt. Tabu ist der Mensch in seiner Würde und Unverletzlichkeit.

Der Autor wagt in diesem Roman etwas Gefährliches: Er will sein Anliegen als Jurist und die Kunst des Romans zusammenbringen. Das geht meistens schief. Hier nicht.