Ian McEwan: Solar

Völlig ungeeignet für notorische Gutmenschen und Weltverbesserer ist dieser Roman.

Der Protagonist ist ein Mistkerl. Ab er einer mit genialen Phasen. Für die erste wird er in jungen Jahren mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Ob er vierzig Jahre später die grandiose Idee eines anderen vervollkommnen kann bleibt offen, denn vorher ereilt ihn der Tod. Zwischen diesen Stationen entfaltet McEwan ein Männerleben, das man einerseits abtun könnte als das Leben eines unbelehrbaren, unethischen, schlicht schwanzgesteuerten Dummkopfs, das andererseits aber die kindischen und intriganten Spiele des Wissenschaftsbetriebs zeigt.

Vom Ende der Ehe No. 5 (nach nachgewiesenen elf Fremdgängen) über einem Unglücksfall, der als Mord einem Nebenbuhler in die Schuhe geschoben wird, etlichen weiteren Liebschaften und einer Arktis-Expedition, der Usurpation fremder Geistesblitze und überreichlichem Fressen und Saufen bin ich dem Protagonisten Michael Beard mit großer Lesefreude auf der Spur geblieben, geht es doch um etliches mehr als um seine Person und seine unappetitliche Psyche.

Dazu zwei Beispiele:

Beard war immer auf der Suche nach gutbezahlten Ämtern und Pfründen. Ein paar waren vor kurzem weggefallen und das Professorengehalt samt Honoraren für Vorträge und Medienauftritte reichte hinten und vorne nicht. Zum Glück wollte die Blair-Regierung am Ende des Jahrhunderts sich nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten im Kampf gegen den Klimawandel engagieren, oder wenigstens so tun als ob. Sie kündigte eine Reihe von Maßnahmen an, für eine davon stand ihr Institut, an dem Grundlagenforschung betrieben werden sollte; fehlte nur noch ein Sterblicher an der Spitze, der ihm etwas Stockholmer Glanz verleihen verlieh. Auf politischer Ebene wurde ein neuer Minister ernannt, ein ehrgeiziger Populist aus Manchester, der stolz auf die industrielle Vergangenheit der Stadt war und auf einer Pressekonferenz erklärte, er wolle „den Erfindergeist“ der Briten „anzapfen“ und fordere sie daher auf, ihre Ideen und Konstruktionszeichnungen zur Gewinnung sauberer Energie einzureichen. Vor laufenden Kameras versprach er, man werde jede einzelne Zuschrift beantworten. Innerhalb von sechs Wochen erhielt Brabys Team – ein halbes Dutzend schlechtbezahlte promovierte wissenschaftliche Mitarbeiter, die in vier Wohncontainern auf dem sumpfigen Acker untergebracht waren – Hunderte von Vorschlägen.

Hier ist schon alles schön beisammen: Konkurrenzdenken, Scheinmaßnahmen, falscher Schein, Eitelkeit, Unkenntnis, Ressourcenlosigkeit. Aber es kommt noch schöner:

Während er verdrossen von einem Büro zum nächsten ging, fragte sich Beard mit leichtem Selbstbedauern, wie es möglich war, dass auf eine von ihm achtlos fallengelassene Bemerkung hin der ganze Verein nur noch mit diesem sinnlosen Projekt [Windgeneratoren auf allen Dächern Londons] beschäftigt war. Die Antwort war einfach. Sein Vorschlag hatte eine Lawine von Aktenvermerken ausgelöst, detaillierte, hundertsiebenundneunzig Seiten lange Ausarbeitungen, Etatentwürfe, Kostenaufstellungen und Tabellen, die er alle ungelesen abgezeichnet hatte. Und warum? Weil Patrice [Ehefrau No. 5] mit Tarpin [Installateur] eine Affäre hatten und er an nichts anderes mehr denken konnte.

Ein Schelm, wer dabei an Stuttgart denkt. Oder an Inklusion. Oder an den Fortschritt ganz allgemein.

Selbstverständlich bekommt auch die Gender-Orientierung ihr Fett bzw. ihre weiche Tomate ab, mit der Beard von einer empörten Feministin an Revers geworfen bekommt. Da er sie auffängt und mit lässiger Reaktion zurückwirft, bringt er sich für einige Zeit um seinen Job:

Die inzwischen aufgeplatzte Tomate traf die Frau mitten ins Gesicht, rechts neben der Nase. Die Frau, etwa in Beards Alter und ähnlich füllig, stieß ein wehleidiges Jaulen aus, schlug die Hände vors Gesicht, schmierte dabei das Ganze noch breit und sank gleichzeitig in die Knie.

In Farbe ergab das dein dramatisches Bild. Von hinten aufgenommen, zeigt es Beard riesenhaft über einer am Boden kauernden Frau, Opfer eines blutrünstigen Anschlags. Eine deutsche Zeitschrift brachte es auf der Titelseite unter der Schlagzeile: „Demonstrantin von ‚Neonazi-Professor‘ niedergestreckt“. Im Hintergrund gerade noch zu erkennen war das passende Transparent. Ein weiteres, über den Kopf der knieenden Frau aufgenommenes und oft nachgedrucktes Foto offenbarte Beards herzloses Grinsen. Er hatte es sich nicht verkneifen können.

Aber Beard hat neue Pläne. Die Aufzeichnungen eines Toten hat er soweit entschlüsselt, dass sie ihm zur Grundlage weiterer Entwicklungen werden. Er will aus Wasser die Energie der Zukunft gewinnen. Dafür braucht er Investoren, denen er eine Show anbieten muss, denn von Wissenschaft verstehen sie nichts, dafür umso mehr vom Profit. Und so ist bis zur US-amerikanischen Fliegerstaffel alles perfekt für die verführende Vorführung organisiert. Aber es ist die gegen seinen Willen zustande gekommene Tochter, die er am Ende in die Arme schließt, und nicht die Investoren, denn seine Planungenversinken in Intrigen und Neid .

Ein sarkastischer und überaus handlungsstarker Roman, den ich in so laut und grell nach der Lektüre von „Abbitte“ und „Ein Trost von Fremden“ von diesem Autor nicht erwartet habe. Aber nach kurzer Irritation fühlte ich mich wunderbar unterhalten, habe die letzten zehn Jahre, in denen der Roman spielt, noch einmal an mir vorüberziehen lassen.

Dieser Michael Beard führt uns durch den Dschungel von Politik, Wissenschaft, Finanzwelt und Öffentlichkeit wie ein blechtrommelnder Oskar, der einen humorvoll-sarkastischen Blick hinter die Hochglanzbroschüren erlaubt und feststellt, wie sehr es doch menschelt in der Welt der Wichtigen.

30.10.2010