Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe

Es geht um ein Bild. Ein berühmtes, dessen Maler Gerhard Richter ist: „Ema, Akt auf einer Treppe“. Gerhard Richter ist als der bestbezahlte Künstler in den Medien überaus präsent. Und da auch im Roman der Schöpfer des Bildes auftritt, frage ich mich nach dem Verhältnis zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Wie weit vermischen sich beide?

Waren in „Zwei Herren am Strand“ reale Personen in einem weitgehend fiktiven Geschehen zu sehen, so sind hier ein kunstgeschichtlicher Meilenstein und sein Schöpfer in einem Spiel von fiktiver Realität oder realer Fiktionalität gefangen. Zwar beteuert der Autor in einem Nachwort, der Maler Gerhard Richter habe mit der Romanfigur Karl Schwind nichts zu tun, aber dem Leser drängt sich bei dessen äußerer Beschreibung das Bild Richters geradezu auf. Die Leserin erlaubt sich verwirrt zu sein.

Drei Männer, eine Frau, ein Bild sind die Hauptingredienzen dieses Romans und es braucht fast ein ganzes Erwachsenenleben, bis die Frau und ein Mann eine gemeinsame Lebensform finden.
Der Ich-Erzähler, ein äußerst penibler Anwalt, wird von dem Maler und seiner Partnerin, Irene Gundlach, beauftragt, bei dem Käufer des Bildes dafür zu sorgen, dass Fotos davon gemacht werden können als Ersatz für ein verbranntes Portfolio. Allmählich wird klar, dass die Frau die Ehefrau des Käufers sowie die Person ist, die das Bild zeigt. Und sie ist auch die Frau, die Ehemann und Maler verlässt und sich auch auf den Juristen nicht einlässt, den sie jedoch bewegen kann, an der Grenze der Legalität beim Entwenden des Bildes zu helfen. Dessen Bereitschaft, sich in die Gefahr einer beruflichen Katastrophe zu begeben, macht deutlich: er hat sich verliebt.

Ich habe einmal in einem Museum Bilder des neunzehnten Jahrhunderts von weißen Sklavinnen in arabischen oder türkischen Harems gesehen. Säulen, Marmor, Polster, Fächer, die Frauen nackt, in lasziver Haltung und mit unergründlichen Augen. Kitsch, fand ich. War auch die Frau, die die Treppe herab- und mir entgegenkam, Kitsch? Ich weiß es nicht. Das Durcheinander von Gewalt und Verführung, Widerstand und Hingabe machte mich verlegen. Es war kein Terrain, auf dem ich Frauen damals begegnet bin.

Und es wird auch nicht wieder geschehen. Die Frau und das Bild verschwinden aus seinem Leben und aus der Öffentlichkeit.

Die Entscheidung für den Beruf fiel aus Trotz, geheiratet habe ich, weil es keinen Grund gab, nicht zu heiraten, und das eine führte dann zur großen Kanzlei und das andere zu den drei Kindern.

Nach vielen Jahren, am Ende seines Berufslebens, ist der Ich-Erzähler in Australien und findet das verschollen geglaubte Bild in einer Galerie. Er findet heraus, dass es von Irene für die Ausstellung zur Verfügung gestellt worden ist. Sie wohnt in einem Küstenort in der Nähe, und er macht sich auf den Weg. Er begegnet einer alten und kranken Frau. Und er bleibt nicht der einzige Gast, denn auch ihr Mann und der Künstler haben sich auf den Weg gemacht, als sie vom Wiederauftauchen des Werks erfahren haben. Damit ist Irenes Plan aufgegangen, am Ende ihres Lebens vielleicht doch noch herauszufinden, was sie fortgetrieben hat von diesen Männern, die nun wie in früheren Zeiten sich in zäher Besitzgier um das Bild streiten. Dies gibt dem Erzähler die Gelegenheit zu rückblickenden Einschätzungen der Protagonisten, die manchmal erhellend, manchmal aber auch bizarr erscheinen. Maler und Ex-Ehemann verabschieden sich, der Erzähler bleibt. Er wird bleiben bis zu Irenes Tod nur zwei Wochen später. Aber die Zeit bis dahin ist erfüllt mit einem weiteren Spiel mit der Fiktionalität.

Aber als ich saß, fragte sie: „Erzählst du mir, wie es gewesen wäre?“
Ich verstand nicht.
„Wie es geworden wäre, wenn ich damals zu dir gekommen wäre?“

In diesen Phantasiereisen zeigen sich noch einmal die Charaktere beider Personen fast bis zur Karikatur. Während der Tod nach Irene greift, ergreifen unbekannte Gefühle den Ich-Erzähler.

Gerade überfliege ich noch einmal einige Seiten und versuche, einen überflüssigen Satz zu finden. Es gelingt mir nicht. Die offenbare Lust des Autors an sprachlicher Präzision macht diesen Roman zu einem großen Lesevergnügen und zu einem Anlass, sich grundsätzliche literarische Fragen einmal wieder zu stellen – rein fiktional natürlich.

07.10.2014