Irvin D. Yalom: Und Nietzsche weinte

Wirklichkeitspuzzle

Wenn ein Analytiker einen Roman schreibt, dann scheint mir Vorsicht geboten, aber hier ist ein schreibender Könner am Werk.

Die auftretenden Personen sind allesamt bekannt: Friedrich Nietzsche, Josef Breuer, Lehrer und Mentor Sigmund Freuds, dieser selbst, Lou Salomé und Anna O. und die Elemente der Psychoanalyse, so man sie denn auch als Person betrachten darf.

Aus diesen Zutaten legt der Autor ein neues Puzzle. In der Wirklichkeit hat es nie eine Begegnung zwischen Nietzsche und Breuer gegeben, aber in diesem neuen Bild, das Yalom erfindet, ist sie der Kernpunkt.

Es ist Lou Salomé, die die Geschichte ins Rollen bringt:

Wenn eine Frau die Gesellschaft eines Mannes genoß, weshalb sollte sie nicht seinen Arm nehmen und bitten, ihn begleiten zu dürfen? Und doch würde keine einzige Frau seiner Bekanntschaft die Worte ausgesprochen haben. Er hatte eine vollkommen neue Art Frau vor sich. Diese Frau war frei!

Sie bittet Breuer, den an vielen Gebrechen leidenden Nietzsche zu behandeln. Das erweist sich als zunächst unmögliche Aufgabe, weil der Philosoph jede Hilfe, die über die medizinische Notversorgung hinausgeht, strikt ablehnt, weil er sich nicht der Führung eines anderen Menschen anvertrauen kann und will.

In langen Gesprächen, die Breuer wie Schachpartien vorkommen, in denen er immer wieder unterliegt, versucht er Nietzsche vom Nutzen einer „Redekur“ zu überzeugen, wie er sie bei Anna O. scheinbar erfolgreich angewendet hat. Aber Nietzsche pariert jeden seiner Vorschläge. Diese Gespräche geben eine lohnende Gelegenheit, die mit vielerlei Etiketten versehene Philosophie Nietzsches schrittweise besser zu verstehen.

Als Breuer klar wird, dass er mit seinen hergebrachten Therapieformen erfolglos sein wird, wagt er ein Experiment:

„Ich darf also annehmen, wiewohl Sie selbst vielleicht andere Begriffe wählen würden, dass Ihre Mission die ist, die Menschheit vor Nihilismus und Trug zu retten?“

Wieder ein verhaltenes Nicken von Nietzsche.

„Dann retten Sie mich! Führen Sie das Experiment an mir durch. Ich bin das ideale Versuchskaninchen. Ich habe Gott getötet. Ich glaube nicht an das Übernatürliche. Ich ersaufe in Nihilismus. Ich weiß nicht, wozu ich leben soll! Ich weiß nicht, wie ich leben soll.“

Auf dieses Arrangement lässt Nietzsche sich ein und in der Folge erlebt Breuer, wie ihm sein altes Leben, das ihm tatsächlich immer fragwürdiger geworden war, immer mehr entgleitet. Aber er gewinnt neue Einsichten, zu denen ihm auch die Gespräche mit Freud verhelfen. Die Ahnung, dass es einen unbewussten Teil der Psyche gibt, der das Ruder fest in der Hand hat, verfestigt sich und in den Gesprächen mit Nietzsche entwickeln sich Elemente der spätere Therapieform der Psychoanalyse.

„Das ist gut, Joseph! Ob 'befreien‘ allerdings der treffende Ausdruck ist? Schließlich hat dieser 'andere Müller‘ [Müller ist das Pseudonym für Nietzsche im Krankenhaus] ja keine gesonderte Existenz, er ist nur ein unbewusster Teil von unserem Müller. Drehte es sich nicht vielmehr darum, diesem Teile die Aufnahme ins Ich zu ermöglichen?“ Freud schien selbst von seinem Einfall beeindruckt. Er schlug die Faust sanft auf den Tisch und wiederholte: „Aufnahme ins Ich!“

Aber nicht nur für Breuer beginnt ein Weg in ein neues wissenschaftliches und privates Leben, sondern auch für Nietzsche hat die bizarre Beziehung zu Breuer Folgen:

„Seltsam, aber im nämlichen Augenblick, da ich – zum ersten Mal in meinem Leben – meine Einsamkeit in ihrer ganzen Bodenlosigkeit und ihrem ganzen Schrecken zu erkennen gebe, in diesem selben Augenblick schmilzt die Einsamkeit weg! Im nämlichen Augenblick, da ich Ihnen sagte, mich habe noch nie jemand berührt, in eben diesem Augenblick ließ ich mich erstmals berühren. Ein unbeschreiblicher Augenblick, als wäre eine dicke innere Eiskruste plötzlich gerissen und in tausend Stücke gesrpungen.“

Wie schade, dass die Wirklichkeit kein Yalomsches Puzzle ist.

01.07.2012