Philipp Roth: Nemesis

Sehr amerikanisch ...

... erscheint mir diese wunderbar erzählte Geschichte. Berichtet wird von einem jungen Mann, Mr. 'Bucky‘ Cantor, der ein perfekter Sportlehrer ist, mäßig gebildet, doch mit allen Werthaltungen ausgestattet, die die amerikanische Mittelschicht zu bieten hat: Er ist zuverlässig und liebevoll, pflichtbewusst und immer ein Vorbild für seine Schüler. Nur ein Makel hindert ihn, es seinen Freunden gleich zu tun und sein Leben im Krieg einzusetzen. Er ist stark kurzsichtig. So ist er gezwungen, zuhause seinem Beruf nachzugehen. Seine erste Stelle ist die eines Sportbetreuers während der Sommerferien im tropisch heißen Sommer in Newark. Als eine Polio-Epidemie ausbricht und auch etliche seiner Schüler davon betroffen sind, hadert er mit Gott. Er kann und will nicht verstehen, dass der allmächtige (jüdische) Gott die Kinder, und dazu die besten, dahinrafft. Aber diese Gedanken versteckt er zunächst vor den trauernden Eltern und auch vor den Beschuldigungen zorniger Mütter, die ihn verantwortlich machen, dass er mit seinen sportlichen Herausforderungen die Kinder krank mache.

Währenddessen arbeitet seine Freundin in einem Sommercamp weitab des von Kinderlähmung betroffenen Gebiets. Als sie ihn bittet, auch in dieses Camp zu kommen, lehnt er dies ab. Er will sich seiner Verantwortung nicht entziehen und bei seinen Schülern bleiben. Als er nach einem Gespräch mit dem Vaters dieses Mädchens, einem Arzt, doch zustimmt, ins Sommercamp zu fahren, tut er das fast gegen seinen Willen.

Einige Tage lang erleben die beiden fast ein ‚amerikanisches Idyll‘, auch wenn der Schatten der Unverantwortlichkeit die Seele des jungen Mannes belastet. Dies wird noch stärker, als er vom Tod eines seiner Freunde hört, der in Europa im Krieg gestorben ist.

Nach einer Woche gibt es im Camp den ersten Polio-Fall. Es ist der Junge, den Mr. Cantor intensiv am Sprungturm trainiert hatte. Der Verdacht, dass der Lehrer die Krankheit eingeschleppt hat, bestätigt sich. Er ist einer der wenigen Fälle, bei denen der Ausbruch der Krankheit sich verzögert.

Mit dem Tag der Diagnose verlässt Mr. Cantor sein altes Leben. Nicht nur sein Körper wird von der Krankheit betroffen, sondern auch seine Seele. Er verweigert sich der Liebe seines Mädchens, das zu ihm halten will und auch seinem Lebenstraum als Sportlehrer. Er sieht sich als Verursacher des Todes etlicher Schüler und fristet sein Leben letztlich als Postangestellter.

Er ist über fünfzig Jahre alt, als er zufällig einen seiner Schüler wiedertrifft, der ebenfalls an Kinderlähmung erkrankt war, jedoch überlebte und in ähnlicher Weise körperlich behindert ist wie er. Dieser Mann ist es nun, der sich als Erzähler der Geschichte Mr. Cantors erweist. Er ist schon früher aufgetaucht, wenn er sagt, ‚und dann bekam auch ich die Krankheit‘, aber seine Identität und die Quelle seines Wissens über Mr. Cantor erkennt der Leser erst am Ende des Romans.

Und auch am Ende des Romans erhält diese einfache Geschichte, die einfühlsam und zur Identifikation einladend erzählt wird, ihre über die Ereignisse hinausgehende Dimension, die sich auch im Titel ankündigt.

Wikepedia lehrt: Nemesis … ist in der griechischen Mythologie die Göttin des „gerechten Zorns“ sowie diejenige, die „herzlos Liebende“ bestraft. Sie wurde dadurch auch zur Rachegottheit. […] Nemesis bestraft vor allem die menschliche Selbstüberschätzung …

Dies könnte das Motto sein des Gesprächs, das der ehemalige Schüler mit seinem Lehrer führt:

„… Sie sprechen von Gott. Glauben Sie immer noch an den Gott, den Sie schmähen?“ fragte ich ihn. „Ja. Irgendjemand muss das alles ja gemacht haben.“

„An Gott, den großen Verbrecher“, sagte ich. „Ist es das, woran Sie glauben? Aber wenn Gott der große Verbrecher ist, können Sie nicht ebenfalls der Verbrecher sein.“

„Wie Sie wollen – es ist ein medizinisches Rätsel. Ich bin ein medizinisches Rätsel“, sagte er und verwirrte mich. Meinte er vielleicht, das Ganze sei ein theologisches Rätsel? War dies seine Laienversion der gnostischen Doktrin, komplett mit einem bösen Demiurgen? Das Göttliche als Feind unserer Existenz? Zugegebenermaßen wog der Beweis seiner eigenen Erfahrungen schwer. Nur eine feindliche Gottheit konnte eine Krankheit wie Kinderlähmung erschaffen. Nur eine feindliche Gottheit konnte jemanden Wie Horace erschaffen. Nur eine feindliche Gottheit konnte den Zweiten Weltkrieg erschaffen. Wenn man alles zusammennahm, sprach vieles für die Existenz einer feindlichen Gottheit. Und sie war allmächtig. Buckys (Mr. Cantors Spitzname) Vorstellung von Gott, wie ich sie zu verstehen glaubte, war die von einem allmächtigen Wesen, auf dessen Natur und Absicht man nicht aus zweifelhaften biblischen Quellen, sondern ausschließlich aus unwiderleglichen, im Lauf eines Lebens im zwanzigsten Jahrhundert gesammelten historischen Beweisen schließen durfte. Seine Vorstellung von Gott war die von einem allmächtigen Wesen, das keine Dreifaltigkeit war wie im Christentum, sondern eine Zweifaltigkeit – die Vereinigung eines perversen Arschlochs mit einem bösartigen Genie. […] Eine Epidemie bricht aus, und er sucht nach dem Grund. Er muss fragen: Warum? Warum? Dass das Ganze sinnlos, zufällig, absurd und tragisch ist, stellt ihn nicht zufrieden. Auch nicht, dass die Ursache ein sich stark ausbreitendes Virus ist. Er forscht verzweifelt nach einem tieferen Grund, dieser Märtyrer, die Such nach dem Warum wird zur Manie, und er findet es entweder bei Gott oder in sich selbst oder – mysteriös und mystisch – in der schrecklichen Vereinigung dieser beiden zu einem einzigen Zerstörer […] in der Hybris eines phantastischen, kindischen Gottesbegriffs.

An dieser Stelle wird deutlich, was dem grundsympathischen Mr. Cantor in all den Schuldzuweisungen, mit denen er sich quält, fehlt: die Demut, ein unbegründetes Schicksal anzunehmen. Indem er sich als die vom Virus befallene Quelle allen Unheils in einer persönlichen Schuld sieht, verschafft er sich selbst die Berechtigung, sich seiner Freundin und ihrer Familie zu verweigern.

Vielleicht wird hier auch das amerikanische Dilemma deutlich: das Gefühl einer persönlichen Verantwortung, mit dem die Politik glaubt, alle Verdrießlichkeiten der Welt auf ihre Art regeln zu können. Und dabei mordsmäßig sympathisch zu sein.

10.04.2011