Michael Cunningham: In die Nacht hinein

T.M. auf amerikanisch

Die Erwartungen waren hoch, als ich den neuen Roman nach Hause trug; hatte ich doch vor etlichen Jahren seinen Erstling „Die Stunden“ wahrhaft verschlungen. Nun aber stellt sich Ernüchterung ein. Durchaus feinsinnig wird hier zunächst ein amerikanisches Ehepaar vorgestellt, beide haben die Vierzig überschritten, arbeiten im Kunstbetrieb, sind arriviert und pflegen ihre Probleme. Sie führen ihre Dialoge, als hätten sie jahrelang auf den diversen Sofas von freudianischen Psychoanalytikern verbracht. Und auch das Geschehen scheint wie am Reißbrett eines etwas simpel verstandenen Freud entworfen zu sein. Alle Versatzstücke sind vorhanden. Die frühkindliche Kränkung des Protagonisten durch den bewunderten Bruder, der früh an Aids stirbt; die latente Verunsicherung durch dessen Homosexualität. All das wird für den Protagonisten Peter Harris wieder lebendig, als der jüngere Bruder seiner Frau sein Kommen ankündigt. Der wird Missy genannt, denn er ist ein Nachkömmling. Nun steht er da in voller Schönheit, die vor allem die Schönheit ist, die Peter ihm zuspricht. Missy ist völlig ziellos, außer wenn es um die Beschaffung von Drogen geht. Und er ist völlig gewissenlos, wenn er dafür mit den Gefühlen von Menschen spielt. So auch mit denen von Peter, der sich einen kurzen Traum eines anderen Lebens gestattet. Aber bevor der Traum auch nur ein Stückchen in die Wirklichkeit geholt wird, wirft Peter dann doch zwei statt der einen üblichen Schlaftablette ein.

Da die Geschichte im Milieu moderner Kunst angesiedelt ist, muss natürlich auch diese thematisiert werden, aber sie wird mit Schwung auf den Kehrrichthaufen geworfen:

Die Kunst der Vergangenheit wollte uns etwas Ähnliches geben wie das, was mit Peter im Moment geschieht – einen Blick in die Tiefen des anderen Menschen. Videos von Passanten sind nicht das Gleiche. Auch nicht obszöne Vasen, tote Haie oder sonst was, wirklich, das ist alles schräg, distanziert oder ironisch, das soll schockieren oder provozieren. Es bietet nicht, was einem schönen, verdorbenen Jungen mit einem Drogenproblem gleichkommt, der sich da drüben, auf der anderen Seite des Schleiers, unbekannte Phantasien ersinnt.

Dieser sich verzehrende Protagonist erinnert auf fatale Weise an eine andere Figur: Gustav Aschenbach. Thomas Manns „Tod in Venedig“ muss man als Vorlage für diesen Roman ansehen, wie es der Autor auch nahelegt. Aber diese amerikanische Antwort auf die „Kunst der Vergangenheit“ geht gründlich schief, wird aufgehoben im letzten Satz:

Und dann erzählt er ihr alles, was geschehen ist.

Dieses „alles erzählen“ ist verräterisch. Es hebt den postulierten Schleier auf. Das ist leider ein ziemlich platter Psychologismus statt Literatur.

13.01.2011