Irvin D. Yalom: Die Schopenhauer-Kur

Der überwundene Philosoph

Einmal Yalom, immer mehr Yalom.

Diesmal geht die Geschichte so: Ein älterer Psychotherapeut, Julius mit Namen, erfährt von seiner gefährlichen Krankheit und fragt sich nun, ob seine Arbeit für seine Klienten Gutes bewirkt hat. So erkundigt er sich nach vielen Jahren bei einem seiner schwierigeren Fälle, ob die damals abgebrochene Therapie doch noch zu einem späten, langfristigen Erfolg geführt hat. Zu seinem Erstaunen erfährt er, dass sein ehemaliger Klient, in früheren Zeiten vom Sex besessen, nunmehr daran arbeitet, eine therapeutische Praxis zu eröffnen. Schon freut sich unser alter Herr, dass die Therapie nun doch zu einem guten Ende geführt hat, als er hören muss, die Heilung sei nicht ihm zu verdanken, sondern dem Philosophen Arthur Schopenhauer. Dessen Schriften waren der Inhalt einer Selbsttherapie, der sich Philip Slate unterzogen hatte.

Und schon schwelgt Yalom wieder in seinem Element: Einen der gedanklichen Wegbereiter der Psychoanalyse darzustellen, hier in seiner Verkörperung durch einen Mann, der sich dem Philosophen voll und ganz verschrieben hat. Er bringt diesen als ein fremdes Element in eine Therapiegruppe, die schon seit vielen Jahren besteht. So gelingt ihm beides: die psychodynamische Praxis einer solchen Gruppe stellt er ebenso dar wie die Anschauungen Schopenhauers, die meist wie ein Fremdkörper dort hineinplatzen, aber auch immer wieder durch ihren kalten Rationalismus belebend wirken. Abwechselnd handeln die Kapitel von den Therapiesitzungen und vom Leben Schopenhauers, so dass die geneigte Leserin nicht nur vieles erfährt von ernst und liebevoll, zugleich aber auch humorvoll erzählten Vorgängen in der Gruppe, sondern auch vom Leben des Herrn Schopenhauer. Der war ein rechtes Scheusal, aber eines mit unbestechlicher Präzision des Denkens.

„Genau, Tony“, sagte Gill, „ und ich bekenne es auch: Ich weiß nicht, wer Schopenhauer ist.“

„Ich weiß nur“, bemerkte Stuart, „dass er ein berühmter Philosoph war. Deutscher, Pessimist. 19. Jahrhundert?“

„Ja, er starb 1860 in Frankfurt“, sagte Philip, „und was seinen Pessimismus betrifft, so ist er für mich eben Realismus. Und Tony, es mag stimmen, dass ich übertrieben oft von Schopenhauer spreche, aber ich habe gute Gründe dafür.“ Tony wirkte geschockt, dass Philip ihn persönlich angesprochen hatte. […]

Dann fuhr er fort: „Erstens: Schopenhauer zu kennen, heißt mich zu kennen. Wir sind unzertrennlich, Zwillingsgehirne. Zweitens hat er mir als Therapeut gedient und unschätzbare Hilfe geboten. Ich habe ihn internalisiert – seine Ideen meine ich natürlich, wie es viele von Ihnen mit Dr. Hertzfeld getan haben. Moment – Julius meinte ich!“ Philip lächelte schwach, während er Julius anschaute – sein erster Anflug von Leichtfertigkeit in der Gruppe. „Und schließlich habe ich die Hoffnung, dass einige von Schopenhauers Ansichten Ihnen ebenso von Nutzen sein werden, wie sie es für mich waren.“

So wird es auch sein, denn es erweist sich auch, dass ein Schopenhauer-Leben nur eines mit sehr eingeschränkter Lebendigkeit und Freude ist.

„Aber es ist mehr als nur die Anziehungskraft der Höhen, die Schopenhauer motiviert; es gibt auch Anstöße von unten. Zwei weitere Charakterzüge sind schon bei dem jungen Arthur offensichtlich: eine tiefe Menschenfeindlichkeit, gepaart mit einem unerbittlichen Pessimismus. Waren es einerseits hohe Berge, ferne Ausblicke und die kosmische Perspektive, die Arthur lockten, so galt andererseits ebenso, dass die Nähe zu anderen ihn abstieß.“

Also muss Schopenhauer überwunden werden – und wird es auch; zumindest in diesem Roman.

25.11.2012