Milena Michiko Flašar: Ich nannte ihn Krawatte

„Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ Dieses Zitat von Franz Kafka ging mir beim Lesen durch den Kopf. Aber das Bild Kafkas stimmt hier nicht. Dieser Roman ist keine Axt, er ist ein mildes Glühen, das das Eis zum Schmelzen bringen kann.

Erzählt wird die Geschichte zweier Menschen. Der Ich-Erzähler ist ein Hikikomori. (So bezeichnet man in Japan junge Menschen, die sich weigern, das Haus ihrer Eltern zu verlassen, sich dort verkriechen und jeden Kontakt mit der Familie zu vermeiden versuchen.) Über zwei Jahre hat er nur den Riss in der Wand betrachtet, bis er sich entschließt, heimlich das Haus zu verlassen. In einem Park begegnet er einem älteren Mann, der dort ganze Tage auf einer Bank verbringt. Vorsichtig und zögernd gewöhnen sich die beiden aneinander und beginnen zu erzählen, was sie auf die Parkbank gebracht hat.

Die guten Noten waren nicht für mich, sondern für die Eltern, die dachten, es würde einmal etwas Solides aus mir werden. Es war ihr Ehrgeiz, nicht meiner. Es war ihre Vorstellung von einem nach vorwärts gerichteten Leben. (…)

Yukiko hätte einen Freund gebraucht.

Einen, der für sie spricht.

Ich aber.

Ich hatte keinen Mund. Weder beteiligte ich mich am Gerede der anderen, noch hielt ich etwas dagegen. Es galt, draußen zu bleiben, wenn drinnen die Welt zerfiel.

Der ältere Mann dagegen sitzt im Park, weil er vor seiner Frau verheimlichen will, dass er bereits seit einiger Zeit aus seiner Arbeit entlassen ist. Auch er erzählt von den erschütternden Wendepunkten seines Lebens, die er nur deswegen überlebte, weil er sich nicht eingelassen, sondern an seiner Vorstellung von Normalität eisern festgehalten hat.

Der langsame Weg zurück ins Leben für den jungen Mann und der plötzliche Tod des alten, als dieser auf dem Weg ist, seiner Frau die Wahrheit zu berichten, wird in einer sehr behutsamen und eindringlichen Weise von der jungen Autorin dargestellt. Ihre Sprache ist eigenwillig, manchmal brechen die Sätze des Ich-Erzählers ab, wenn die Worte überflüssig sind, Kommata zeigen die Zögerlichkeit, mit der er sich auf das Erzählen einlässt.

So sind die Szenen, die hier geschildert werden, nie plakativ, sondern überlassen es dem Leser, seine Schlüsse daraus zu ziehen.

Wie wir beieinander saßen und uns mit Hilfe des Uneigentlichen über das Eigentliche verständigten. Mir wurde bewusst, dass auch Vater und Mutter Hikikomoris gewesen waren. Mit mir im Haus waren auch sie eingesperrt gewesen, da mein Leben an ihrem hing. (…)

Also dann. Ich war aufgestanden. Gute Nacht.

Vater: Das war das beste Spiel, das ich seit langem gesehen habe. Er sprach, ohne aufzuschauen, den Blick auf den Bildschirm gerichtet. Mit der einen Hand umklammerte er sein leergetrunkenes Glas, mit der anderen hielt er sich an der Tischkante fest. Die weißen Knöchel verrieten ihn. Verräterische Unbewegtheit. Ein Wort mehr und das Glas in seiner Hand wäre zersprungen.

01.07.2012