Hartmut Lange: Das Konzert

Gerade habe ich dieses erstaunliche Stückchen Literatur zu Ende gelesen. Es ist eine Geschichte der lebenden Toten. Nicht eigentlich das, was mich zu einem Buch greifen lässt. Aber der Autor genießt bei mir höchstes Ansehen, also lasse ich mich ein auf „Das Konzert”. Und dabei werde ich entführt in eine höchst normale Welt, in die der Toten, genauer, der Getöteten. Die Überlebenden sind häufig zu Wort gekommen oder zum Thema geworden, hier müssen sie schweigen, denn sie können nicht im Namen der Toten vergeben oder hassen.
In der Geschichte begegnen wir den Toten, die sich in der Welt, die sie verlassen mussten, wieder eingerichtet haben. Sie leben in Berlin, dem Berlin der Gegenwart von etwa 1980. Gleichzeitig existiert für sie das Berlin der zwanziger und frühen dreißiger Jahre. Da gibt es eine Frau Altenschul, deren sprechender Name sie als eine Dame der alten Schule ausweist, die ihre ganze Energie darauf richtet, einen Salon zu führen. Aber dies gelingt ihr erst, als sie die Erinnerung an ihren grausamen Tod, den sie mit verrenkten Gliedern nackt in einer Grube gefunden hat, verdrängen kann. Die Hauptperson ist ein Pianist, Lewanski, der mit 28 Jahren in Litzmannstadt durch einen Genickschuss getötet wurde. Dieser auf ewig junge tote Pianist spielt Beethoven auf einer der Gesellschaften im Hause Altenschul.

„Dann brach er plötzlich ab, saß unbeweglich da, starrte auf die Tastatur und sagte: „Litzmannstadt”. [...]”Ich bitte um Entschuldigung”, sagte er. „Sie hören es selbst: Um dies spielen zu können, sollte ich erwachsen sein. Man hat mich zu früh aus dem Leben gerissen.”

Er gibt die Hoffnung nicht auf, dass sein Spiel besser und reifer werden kann und sieht darin eine mögliche Erlösung vom Trauma seines Todes.
Eine weitere Person, Schulze-Bethmann, gehört am Rande zu der Gesellschaft um Frau Altenschul. Er ist nicht sehr geachtet, scheint er doch keine Scheu zu haben, mit den anderen Toten, den Tätern, in durchaus freundlichem Kontakt zu stehen. Er bemüht sich, den Pianisten in Kontakt zu bringen mit dessen Mörder, der selbst wiederum ein Opfer geworden ist. Und weil die Toten ihre menschlichen Gefühle weiter pflegen, kann Lewanski seinem Mörder nur mit Hass begegnen.

Als ein großes Konzert mit Lewanski stattfinden soll, mit dem die Hoffnung verbunden ist, dass er musikalisch und menschlich reifer geworden ist und somit die Fesseln des Todes sprengen kann, wartet das Publikum vergeblich auf den Künstler. Der ist auf dem Weg in die Philharmonie vom Weg abgekommen und er findet sich in den Gewölben der Täter wieder, die ihn bitten, als Zeichen der Vergebung für sie zu spielen. Lewanski spielt – und bricht ab.

Es ist Schulze-Bethmann, der in einem Gespräch mit Frau Altenschul den Weg Lewanskis erklärt:

„Sehen Sie [...] es hat doch keinen Zweck, jene Unterscheidung, die wir im Leben treffen, nämlich die zwischen Gut und Böse, im Tode beizubehalten. Sie haben es selbst erfahren: Wir würden nur die Unvereinbarkeit alles Lebendigen bis in die Ewigkeit fortsetzen und nach einigen Sekunden des Glücks wieder enttäuscht sein und trauern. Und wo bliebe die Chance, von dieser Fata Morgana endlich einmal erlöst zu sein? [...] Also, ich kann kein Unglück darin sehen, dass der Pianist Rudolf Lewanski den Mut, oder sagen wir, die Gelegenheit hatte, vor seinen Mördern Klavier zu spielen. Der Täter und sein Opfer – was bleibt uns im Tode anderes übrig, als in Betroffenheit beieinander zu sitzen und darüber zu staunen, welche Absurditäten im Leben allerdings und unwiderruflich geschehen sind. Trotzdem [...], Sie sollten wissen, ich habe die Ausdauer, mit der Sie auf den angenehmen Dingen des Lebens beharren, immer wieder bewundert. Ich wünsche Ihnen auch jetzt, dass Sie darin Erfolg haben werden… „

So bleiben auch die Toten entweder Gefangene ihrer Lebensmaximen oder sie gehen den einzigen Weg, der bleibt, den der Versöhnung.

Aus den Zitaten wird deutlich, dass Hartmut Lange aufmerksame Leser braucht, die sich auf seine Sätze, seine Ideen einlassen. Aber die werden belohnt.

Auf Klappentexte soll man ja nichts geben, aber diesmal stimmt der Satz von Monika Maron:

„Das Konzert” ist eine unglaubliche Geschichte, nicht weil sie im Phantastischen angesiedelt ist, sondern weil sie überhaupt gelungen ist.

8.10.2010