Kim Thúy: Der Klang der Fremde

Wie eine Perlenschnur

Fast schon vergriffen war das kleine Büchlein, worauf im Spiegel aufmerksam gemacht wurde. Und darauf steht: Roman. Das weckt falsche Erwartungen. Den Roman muss der Leser in seinem Kopf schreiben, er bekommt nur Anhaltspunkte. Impressionen von selten mehr als einer Seite Länge. Es sind Momente, die ganz dicht und klar festgehalten werden. Der Moment der Geburt in Saigon während der Tet-Offensive Nordvietnams (30. Januar 1968) steht am Anfang. Dann ist es mit der Chronologie der Ereignisse auch schon vorbei und die Autorin bewegt sich sprunghaft zu den unterschiedlichsten Stationen ihres Lebens. Erst allmählich erfährt der Leser Bruchstücke des Lebenslaufs der Ich-Erzählerin. Sie ist die Tochter wohlhabender und gebildeter Bürger, die sich früh darüber im Klaren sind, wie gefährdet ihre Existenz in diesem Krieg ist. Deswegen bereiten sie ihre Kinder früh darauf vor, auch einfache Arbeiten zu verrichten und vor allem zu lernen.

Statt die bereitliegenden Zyankali-Kapseln für die Familie beim Sieg der Nordvietnamesen zu nehmen entschließt sich die Familie für die hochgefährliche Flucht mit dem Schiff. Die erste Station ist Malaysia, wo sie geraume Zeit in einem katastrophalen Lager zubringen.

Wäre an einem Regentag, in einer Regennacht ein Choreograf dabei gewesen, hätte er die Szenerie sicher aufgenommen: Da standen fünfundzwanzig Personen unter der Plane, große und kleine, in jeder Hand eine Konservendose, um das Wasser aufzufangen, das manchmal in Strömen, manchmal Tropfen für Tropfen durch die Löcher kam. Wäre ein Musiker dabei gewesen, hätte er die vielstimmige Orchestrierung des in die Konservendosen trommelnden Wasser gehört. Wäre ein Filmemacher dabei gewesen, hätte er sie Schönheit dieser schweigenden, spontanen Übereinkunft unter Elenden eingefangen. Aber da wären nur wir, auf diesem Lehmboden, der langsam im Lehm versank.

Am Ende der Flucht befindet sich die Familie in Kanada. Die Aufnahme in der Stadt Granby ist überaus herzlich. Die Kinder werden eingeladen und verhätschelt.

So war jeder Mittag für eine andere Gastfamilie reserviert, und jedesmal kamen wir danach mit fast leerem Magen in die Schule, weil wir nicht wussten, wie man körnigen Reis mit der Gabel isst.

Aber sie müssen lernen und arbeiten. Oberster Grundsatz vor allem der Mutter ist es, dass sie sich integrieren. Die Protagonistin wird gezwungen, in der fremden Sprache zu leben. Die alte, eigene Sprache ist nutzlos geworden. Und selbst die Gesten müssen neu gelernt werden.

Wer den Kopf eines Vietnamesen berührt, beleidigt nicht nur ihn, sondern seinen gesamten Stammbaum. So verwandelte sich ein schüchterner achtjähriger Vietnamese in einen wütenden Tiger, als sein Quebecer Teamkollege ihm zur Gratulation für seinen ersten gefangenen Football über den Kopf strich.
Wenn eine zärtliche Geste als Beleidigung verstanden werden kann, dann sind die Gesten der Liebe vielleicht nicht so universell gültig, sondern müssen gelernt und von einer in die andere Sprache übersetzt werden. Im Vietnamesischen lassen sich die Gesten der Liebe durch bestimmte Wörter bemessen: aus Neigung lieben (thích), lieben, ohne verliebt zu sein (thu’o’ng), verliebt lieben (yêu), trunken lieben (mê), blind lieben (mù quáng), aus Dankbarkeit lieben (tình nghia). Es ist also unmöglich, einfach zu lieben, ohne den Kopf zu bemühen.

Assoziativ reihen sich die Erinnerungen aneinander. So erfährt der Leser, dass der Wille zu Integration und Assimilation den amerikanischen Traum nicht nur für die Familie der Erzählerin, sondern für viele andere Clanmitglieder Wirklichkeit wird. Aber es wird auch der Preis deutlich, der dafür zu zahlen ist.
Immer wieder stellen sich die Bilder aus der Vergangenheit ein, besonders als die Erzählerin aus beruflichen Gründen drei Jahre im friedlichen Vietnam verbringt. Dabei bleibt die Erzählerin selbst seltsam ungreifbar. Wir erfahren zwar einiges aus ihrer Biographie, aber nie ist es möglich, sich mit ihr zu identifizieren. Immer ist ihr Blickwinkel anders, begibt sie sich in die unterschiedlichsten Rollen, die das Ich zum Verschwinden bringen. Nur wenn sie als Mutter zweier Söhne spricht, wird ihre unbeugsame Stärke sichtbar, die auch die ihrer Mutter war.
Es ist die sprachliche Präzision der vielen einzelnen Bilder, die die Texte so eindrücklich macht. Da ist keine Zufälligkeit oder Beliebigkeit, jedes Bild ist ein bedeutsamer Ausschnitt aus der Wirklichkeit. Für ein Buch wie dieses sollte man sich Zeit nehmen. Tägliche kleine Dosen wirken.

28.12.2010