Yann Martel: Ein Hemd des zwanzigsten Jahrhunderts

Glücksgriff

Wenn ich denn dürfte, wie ich will, ja, dann würde ich liebend gern diesen Roman mit meinen Studierenden erarbeiten, denn er bietet alles, was lebendige Gegenwartsliteratur haben kann.

Nach dem „Schiffbruch mit Tiger“ ist dem Autor wieder etwas Überraschendes gelungen.

Dabei beginnt Henrys Geschichte durchaus alltäglich. Der Protagonist ist ein erfolgreicher Schriftsteller, der es sich leisten kann, intensiv und mit viel Zeit ein neues Buchprojekt in Angriff zu nehmen. Dabei sind seine Ambitionen hoch gesteckt. Er schreibt über den Holocaust und seine Überlegungen führen ihn in ein Doppelprojekt. Ein Flipbook soll es werden, das – aufgeschlagen auf der einen Seite – sich des Themas literarisch annimmt, öffnet man es von der anderen Seite, ein Essay enthält. Hinreichend neugierig gemacht auf dieses Buch muss der Leser nun miterleben, dass kreative Ideen der Wirklichkeit des Buchmarktes nicht standhalten. In einer heiter bitteren Groteske wird nun gezeigt, wie Idee und Wirklichkeit aufeinanderprallen.

„Wo sollen wir Ihr Buch hinlegen?“, fragte der Buchhändler, der mit vollem Mund redete, „Literatur oder Sachbuch?“
“Im Idealfall beides“, antwortete Henry.
„Können Sie vergessen. Schafft nur Durcheinander. Wissen Sie eigentlich, wie viele Bücher eine Buchhandlung hat? … Und wo wollen Sie den Barcode hinten. Der ist immer hinten auf dem Umschlag. Wo tun Sie den Barcode hin, wenn Sie zwei Vorderseiten haben?“
„Keine Ahnung“, sagte Henry, „auf den Rücken.“
„Zu schmal.“
„Innen auf die Umschlagklappe.“
„Die Kassiererinnen können nicht jedes Buch aufmachen und schauen, wo der Barcode ist. Und was ist, wenn das Buch in Folie ist?“
„Auf einer kleinen Bauchbinde.“
„Die reißen auf und gehen verloren. Und wenn man keinen Barcode hat – ein Albtraum.“

Dieser Balanceakt zwischen einem kaum erträglichen Thema und dem Grotesken, zumindest Überraschendem, ist ein wesentliches Kennzeichen dieses Autors.

Nach dem Scheitern des Buchprojekts privatisiert der Dichter schmollend und füllt seinen Alltag planvoll mit Klarinettenunterricht, Mitwirkung in einer Schauspieltruppe und gelegentlichem Kellnern. Sein Familienleben wird angereichert durch Hund, Katze und Schwangerschaft seiner Frau, bis die Idylle vom Unglaublichen gestört wird. Er trifft auf ein Okapi und auch auf den Präparator, der es ausgestopft hat. Dieser Präparator, auch Henry mit Namen, wird nun zur zentralen Figur. Er hat Teile eines Dramas verfasst und hegt die Hoffnung, es mit Henrys Hilfe vollenden zu könne.

Hier nun beginnt eine literarische Schnitzeljagd von Flaubert und Dante über etliche angedeutete Stationen der Literatur und ihrer Theorien. [Wundervolles Unterrichtsmaterial!]

Das Thema des Dramenfragments ist vordergründig die plan- und lustvolle Vernichtung der Tiere. Teile des Dramas werden in vielen Episoden den geneigten Leser offeriert, in denen Henry, der Schriftsteller, wie auch Henry, der Tierpräparator, sich immer intensiver mit dem Drama beschäftigen. Dessen Titel lautet: Ein Hemd des zwanzigsten Jahrhunderts. Dabei steht das Hemd für nahezu jeden beliebigen Ort.

Allmählich entsteht aus den Fragmenten ein Ganzes, kein Roman, kein Essay, sondern ein Drama, denn hinter den Tieren stehen die Menschen und ihre Vernichtung.

Als der Dichter das Geheimnis des geheimnisvoll emotionslosen Präparators erkennt, kommt das in den Roman, was Henry in dem Drama so sehr vermisst hat: Handlung, besser noch: action. Es wird in einen Leib gestochen, Feuer vernichtet ein Leben und sein Werk, es folgt die Gesundung und der Bericht, dass Henry, der Dichter, nun seine Energie daransetzt, seine Erlebnisse der letzten Monate ebenso aufzuschreiben wie das Theaterstück zu rekonstruieren.

Wird dies alles wie ein federnder Tanz zwischen unermesslichem Grauen und der Banalität und gelegentlichen Absurdität des Alltags dargeboten, so endet der letzte Sprung doch vor dem Vorhang, hinter dem wir unser Wissen gern verbergen.

Der Leser wird zu einem Spiel eingeladen. Die Regeln sind einfach. Die Frage „Was würden Sie tun, wenn …?“ soll beantwortet werden. Zwölfmal. Danach kann man sich besser kennen.

19.01.2011