Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe

Ein schönes böses Buch

Der Untertitel lautet 'Bildungsroman‘ und da beginnen schon Unklarheiten. Bildet sich da einer wie Wilhelm Meister selig, werden Schöler gebüldet, oder geht es vielleicht um den Begriff der Bildung, um die Bildungssysteme unterschiedlicher Machtkonstellationen?

Vor allem geht es um die Biologielehrerin Inge Lohmark im 'vorpommerschen Hinterland‘. Drei Tage, heißt es, nehmen wir an ihrem Leben teil, es könnten aber auch dreißig Tage oder Jahre sein, denn eines bleibt nach Ansicht der Frau Lohmark immer gleich: die Biologie. Und die muss auf die immer gleiche Weise an die nichtsnutzigen Schüler gebracht werden: frontal.

Ja, wie den sonst, Klugscheißer! Die Kinder machten doch nur Blödsinn. Mikroskopierten Popel statt Zwiebelhäutchen. Und weinten den Pantoffeltierchen nach, wenn sie die stinkende Brühe schließlich ins Klo kippten.

Und so ist denn auch eines klar: ihre Schülerinnen und Schüler sind dieser Lehrerin genauso gleichgültig bis hassenswert wie die Kollegen und ihre sonstige soziale Umwelt. So denkt sie über die vor ihr sitzenden Kinder:

Tief im Inneren waren sie glücklich, endlich einmal gefordert zu werden. Alle Tiere wollten dominiert werden. Sie machten da keine Ausnahme. Das war doch mal was. Ein Lichtblick in ihrem ärmlichen Dasein. Ein lähmendes, aber erhabenes Gefühl und eine Tagesration Adrenalin. Puckernde Herzen in ihrer Hand. Ja, Kinder, das war Leben. Und das Leben war nun einmal streng geteilt. In innere Ursache und äußeres Erscheinungsbild. Hartes Wissen, trocken Brot. Es war ganz einfach. Je mehr man ihnen zumutete, desto mehr leisteten sie. Der Leistungswille lag nun einmal in der Natur des Menschen. Und den Naturgesetzen war nicht zu entkommen. Nur der Wettbewerb hielt uns am Leben. An Überforderung war noch niemand gestorben. Ganz im Gegenteil. Wohl aber an Langeweile.

Da ist es nicht verwunderlich, dass die in Amerika lebende Tochter sich nicht allzu häufig bei ihrer Mutter meldet und der Strauße züchtende Ehemann ist auch eher eine notwendige Begleiterscheinung im Leben der 55jährigen. Wir sehen sie kaum in ihrem Klassenraum, aber wie hören ihre Stimme, die kaum merklich in ein böses inneres Summen übergeht, mit dem sie alles um sich herum mit ihren biologischen Karteikärtchen beklebt. So kann sie auch in aller Ruhe dabei zusehen, wie eine Schülerin systematisch gemobbt wird.

Auch Ellen wurde gerade von irgendjemandem in den Schwitzkasten genommen. Wirklich gefährlich sah es nicht aus. Jedenfalls wehrte sie sich noch. Sollte sie sich selbst helfen. Das würde sich schon regulieren.

Und so richtig nett ist auch die Aufgabenstellung:

„Und finden Sie Ihre Blutgruppe heraus. Und die Ihrer Eltern. Samt Rhesusfaktor.“

Das Pausenklingeln.

„Sie alle, zur nächsten Stunde.“

Mal sehen, ob wieder ein Kind dabei war, das danach keinen Vater mehr hatte. Sie war auf der sicheren Seite. Stand alles im Lehrplan.

Es ist nicht immer leicht, den Gedanken dieser bitteren Frau zu folgen, aber da die Autorin nun wirklich nicht humorfrei ist, bleibt die Lektüre auch ohne positive Identifikationsfigur aufregend. Es wird klar, dass ein alles erklären wollenden biologisches Verständnis zum Biologismus gerät, der seine Kinder genauso frisst wie die anderen Ismen auch, ob sie nun Kommunismus, Islamismus, Katholizismus oder wie auch sonst heißen mögen.

Auch wenn die Gedankenbruchstücke der Biologielehrerin noch keinen Roman machen, so liegt doch ein wunderschönes Buch vor mir, denn hier gibt es keine Bleiwüste, sondern einen liebevoll gestalteten Einband und zahlreiche Zeichnungen, die offenbar von der Autorin selbst stammen. Alles alles in allem ein schönes Buch.

30.10.2011