Benedict Wells: Fast genial

Ein starkes Stück

Es ist ja wirklich nicht leicht, mir ein Buch zu schenken. Veronika hat ins Schwarze getroffen.

Wahrscheinlich hätte ich nicht zu diesem Roman eines deutlich unter Dreißigjährigen gegriffen, der rückseitig als Lebensabenteuer angekündigt wird. Aber dafür kann der Autor nichts.

Erzählt wird die Geschichte des siebzehnjährigen Francis, der mit seiner depressiven Mutter in einem Trailerpark in dem Provinznest Claymont an der Ostküste der USA lebt. Als sie eines Tages einen Suizidversuch begeht, verrät sie vorher in einem Brief den Vater ihres Sohnes. Er ist das lebendige Resultat der Idee eines wahnhaften Milliardärs, der eine Samenbank der Genies gegründet und auch eine Weile betrieben hat. Dazu wurden Samenspenden von Nobelpreisträgern, Künstlern, hochmögenden Wissenschaftlern gesammelt und genetisch vielversprechenden jungen Frauen eingepflanzt. Dieses Experiment hat tatsächlich stattgefunden.

Als Francis von seiner Abstammung liest, ist für klar, dass er seinen Vater suchen und finden wird. Mit seinem Freund Grover und mit Anne-May, die er in der Klinik seiner Mutter kennengelernt hat, macht er sich auf den Weg an die Westküste, denn dort war das Gen-Institut. Er wird seinen Vater finden, aber gar nicht so, wie er es sich erhofft hat.

Auch wenn die wahnhafte Schöpferidee des Milliardärs die Folie für die Handlung abgibt, sind die Momentaufnahmen zur Befindlichkeit (nicht nur) amerikanischer Jugendlicher lesenswert:

… danach spielten sie den ganzen Nachmittag Unreal Tournament. Francis wusste zwar, dass das armselig war, aber was wäre die Alternative gewesen? Dass sie ein befreundeter Milliardär auf eine Yachtparty mit hübschen Frauen einlud? So eine Party wie in den Filmen, bei der man sich etwas zu trinken holte, und dann stand man plötzlich neben dem süßen Mädchen, mit dem man schon den ganzen Abend geflirtet hatte, und man unterhielt sich ein bisschen, ehe sie einen am Ärmel fasste und sagte: „Du bist irgendwie anders“, und dann sah man sie an, stellte das Glas weg und küsste sie…

Bullshit, dachte Francis. Nicht in tausend Jahren würden sie zu so etwas eingeladen werden, also spielten sie Unreal Tournament. Dabei hatte er früher nie Probleme mit Frauen gehabt. Er war vielleicht nicht der smarteste Typ von Claymont, außerdem konnte er sich auch keine teuren Klamotten leisten. Dafür war er vor seiner Knieverletzung in der Schulmannschaft gewesen, bei den Ringern, und er war auch nicht schüchtern. Im Gegenteil, früher hatte er viele Freundinnen gehabt und er hatte sich dafür kaum anstrengen müssen. Doch bevor es mit dem Sex richtig losgegangen war, hatte seine Pechsträhne begonnen. An den Wochenenden, wenn die meisten Partys waren, musste er fast immer arbeiten. Außerdem hieß es, dass Frauen positive Ausstrahlung wichtig sei. Doch wenn er jetzt vor einer Frau stand, dachte er an die weißgetünchten Wände im Klinikzimmer seiner Mutter, an das verblichene Gras vor dem Trailer oder an diese Gefühl des sicheren Untergangs, wenn er in der Schule einen Test schrieb. Ununterbrochen dachte er an dieses Zeugs. So viel also zu einer positiven Ausstrahlung.

Hier wird weder weinerlich noch (an)klagend, sondern eher mit einem heiteren Zynismus eine Befindlichkeit dargestellt, mit der der Protagonist sicherlich nicht allein auf der Welt ist.

Der Weg in den Westen ist voller Erlebnisse für die drei Reisenden und der Leser begleitet sie mit zunehmender Spannung. Als Francis vor seinem Vater steht und all seine Träume sich auflösen, beginnt der letzte Teil seiner Reise zu sich selbst. Mittlerweile wird er selbst Vater, ohne diese Rolle ausfüllen zu können, denn die Eltern seiner Liebsten halten diese unter Kuratel.

Also bleiben ihm zwei Wege, die die als der neue amerikanische Traum bezeichnet werden können. Nicht mehr mit Leistung und Glück vom Tellerwäscher zum Millionär, sondern entweder Glückspiel oder Militär. Francis hat zwei Jobs:

Eigentlich tat er das sogar ganz gern, aber es reichte einfach nicht. Obwohl er nie zu spät kam und Überstunden machte, würde er niemals genug verdienen, um für seinen Sohn sorgen zu können oder hier herauszukommen. Und wenn seine Mutter noch einmal in die Klinik musste … oder wenn er selbst krank wurde, dann standen sie am Abgrund.

Als Toby sich das alles angehört hatte, stieß er ihn an. „Tja, Kleiner, wie’s aussieht, musst du dich wohl auch für Geld abschlachten lassen.“

Francis verzog nur das Gesicht. Er hatte schon öfter daran gedacht, sich zu verpflichten. Der Krieg selbst war ihm egal, doch der Gedanke, plötzlich viel Geld zu verdienen und danach studieren und auf einem Campus leben zu dürfen, schien unendlich verlockend. Er blickte zum Fernseher. „Das Problem ist nur, dass beides scheiße ist“, sagte er. „Ich will nicht sterben, aber ich will auch nicht zurückkommen und dann bis zu meinem Tod von irgendwelchen in die Luft gesprengte Kindern, rumliegenden Leichenteilen oder Panikattacken verfolgt werden. Es muss doch noch irgendwas anderes geben.“

„Na ja, du kannst ja auch, wie die meisten hier, dealen, da kriegst du mehr Kohle“, sagte Toby, und dann mussten sie lachen.

Aber eigentlich hatten sie gar nicht richtig gelacht.

Bevor Francis sich verpflichtet, geht er einen anderen Weg. Der führt ihn nach Las Vegas in das MGM Grand. Dort erspielt er sich an den Tischen, die für alle geöffnet sind, den Zugang zu den oberen Stockwerken. Es ist wirklich grandios, wie dieses Spiel um ein Leben geschrieben ist und dieser Schluss ist einer, den ich nicht vergessen werde:

Und nun würde sich alles entscheiden, bitte Schwarz!, bitte Schwarz! bitte Schwarz! und er hörte, wie die Kugel so langsam wurde, dass sie doch endlich in einem der Nummernfächer liegen bleiben musste, und dann hörte er, wie sie tatsächlich mit einem Klicken endgültig in ein Fach gefallen war. Und in diesem Moment hielt er den Atem an. Er hielt den Atem an und öffnete die Augen.

Und nun ist es an dem Leser, diese Geschichte weiter zu schreiben. Rouge ou noir?

30.10.2011