Uwe Timm: Freitisch

Umgedrehte Vergangenheitsspiegel

Da gibt es einige Autoren, nach deren Neuerscheinungen ich immer mal wieder sehe. Diesmal bin ich bei Bouvier in Bonn fündig geworden und musste mich gleich in den Text stürzen.

Dazu muss mal man erst einmal erklären, was ein Freitisch ist: ein (neudeutsch:) gesponsertes kostenloses Mittagessen für mittellose Stipendiaten. So etwas gab es einmal in München. Dort trafen sich mit einiger Regelmäßigkeit in den frühen sechziger Jahren vier Studenten unterschiedlicher Fakultäten, deren wiederkehrendes Thema der Autor Arno Schmidt war. Ganz besonders Euler, der Mathematiker, war von dessen Denken und Schreiben, fasziniert:

„Was not täte, wäre eine Voll=Biegsamkeit der Sprache; die, sei es in der Orthografie, vom Fonetischen, oder auch von den Wort=Wurzeln und =kernen her, imstande wäre, z.B. in einer Flüssigkeitsfläche hin= und her=schwappende Lebewesen rasch und bildhaft=überzeugend à la Neu=Adam zu inventarisieren; ja, noch brutal=fähiger, zu ‘vereinnahmen’.”

Nach über vierzig Jahren ist dieser Euler ein Fachmann geworden für Müll. Mit seiner Firma entwickelt er städtische Abfallentsorgungskonzepte und er berechnet auch die besten Standorte für Mülldeponien. Es geht ihm offenbar gut, wie der Ich-Erzähler auf den ersten Blick feststellt, als er Euler in einem kleinen Örtchen an der Peene wiedertrifft. Das Städtchen teilt das Schicksal vieler Kommunen in den neuen Bundesländern, romantisch ist es und arm. Aber auch ein guter Standort für Müll dank guter Verkehrsanbindungen.

Dem Erzähler fällt es nicht schwer, den Freitisch-Studenten wieder zu erkennen. Aber der braucht viele Erinnerungshilfen, bis er sich erinnert. Nur widerwillig lässt er sich auf einen Cappuccino ein, denn die nächsten Termine drängen, wie sich das für einen erfolgreichen Unternehmer gehört.

Aber er lässt sich einfangen von den Erinnerungen des Erzählers und aus dem einen Cappuccino werden mehrere. Nur selbst erzählen kann und will er offensichtlich nicht. Auch nicht davon, dass er sich eines Tages in einem geliehenen Käfer-Cabrio aufmachte und nach Bargfeld gefahren ist, um den verehrten Autor zu treffen. Er trifft ihn nicht und wird von der Ehefrau am Zaun abgefertigt.

Der Erzähler erinnert sich sehr genau an diese Zeit und würde diese Erinnerungen gern mit dem Freund ferner Tage teilen. Aber der besteigt sein Saab-Cabrio und eilt reifenquietschend gen Berlin. So ist es dem Erzähler überlassen, sich an die gemeinsame Vergangenheitsgeschichte um Arno Schmidt allein zu erinnern.

Was es damit auf sich hat, soll aber nicht verraten werden.

Mit knappen und präzisen Pinselstrichen lässt der Autor die frühen Sechziger hier auferstehen. Ein durchaus wildbewegtes Leben unter der Decke der Wohlanständigkeit und der Sachlichkeit:

„Dennoch war es unmöglich, über unsere Trennung zu reden, die sich über fast zwei Sommermonate hinzog. Die Tischgespräche drehten sich um Geldprobleme, Probleme mit den Professoren und Vermietern, die große und kleine Politik. Keine Rede von dem, was ein paar Jahre später flapsig Beziehungskiste genannt wurde. Die Erregbarkeiten, Enttäuschungen, Erschütterungen, all die geheimen Wünsche und Ängste. Noch fehlte die Sprache. Noch hatten wir nicht Freud und Reich und Marcuse gelesen. Angst vor dem Versagen. Angst, keine guten Noten zu bekommen. Die gute Note, das war das Stipendium, das war auch der Freitisch, das war die Aufnahme in das Oberseminar. Besser als gut war immer sehr gut. Angst, nicht geliebt zu werden, allein zu sein. Dir wird die Liebe entzogen. Du bist nicht mehr der Begehrte. Du bleibst allein zurück. Unvorstellbar, damals am Tisch zu sagen, meine Freundin hat sich von mir getrennt. Man litt stolz allein. Was für ein Bild war das, das man sich hatte, von sich für die anderen haben musste. Keine Schwäche zeigen.”

Uwe Timm ist wie immer ein unaufgeregter, präziser und leiser Autor. Auch hier gelingt es ihm, im Kleinen und Privaten das Allgemeine aufscheinen zu lassen und fassbar zu machen.

07.02.2011