Joshua Ferris: ins freie

Bücherkauf bei Bouvier in Bonn gestaltet sich meist so, dass ich das freundliche Angebot meines Liebsten, die ausgesuchten Bücher für mich zu tragen, freundlich abwehre, damit ich am Gewicht abschätzen kann, wann es Zeit wird, an die Kasse zu gehen. So auch beim letzten Besuch. Zum Stapel an der Kasse gehörte auch dieser Roman von einem in den USA recht hochdekorierten Autor, der mir bisher unbekannt war. Aber die Lobeshymnen aus allen möglichen Zeitungen, elf an der Zahl, ließen Hochkarätiges erwarten.

Zunächst entfaltete die Lektüre durchaus einen spannenden Sog, aber auch etliche Fragezeichen. Erzählt wird eine Krankengeschichte: aus unerfindlichen Gründen wird ein erfolgreicher Anwalt mit dem Namen Tim von einem unüberwindlichen inneren Zwang dazu getrieben, alles stehen zu lassen und zu laufen. Er hat seine Beine nicht mehr unter Kontrolle und muss ihrem Eigenleben folgen, bis er irgendwo in einem Schlaf der Erschöpfung versinkt. Es wird deutlich, dass er solche Anfälle bereits in früheren Jahren hatte, aber nach etlichen Jahren sich geheilt glaubte.

Zunächst versucht er mit Hilfe seiner Frau, seine Laufattacken zu verheimlichen. Das gelingt nur kurze Zeit. Auch der Versuch, ihn mittels Handschellen zu fixieren, bleibt erfolglos. Er verliert seinen Job und letztlich den Glauben daran, noch einmal in die bürgerliche Lebenswelt zurückkehren zu können. Eine kurze Phase scheinbarer Heilung schiebt das langsame Ende auf den Straßen Amerikas nur hinaus.

Die in kurzen Rückblenden erzählten Erfahrungen während seines ersten Krankheitsschubs erscheinen mir höchst seltsam. Da wird berichtet von der Hilflosigkeit der Ärzte, einer erfolglosen Odyssee durch amerikanische und europäische Krankenhäuser und der Fixierung des Protagonisten darauf, eine physische Erklärung für seinen Laufzwang zu finden, weil er nicht mit dem Etikett 'verrückt‘ herumlaufen möchte. Deswegen unterwirft er sich allen möglichen obskuren Ratschlägen.

An einer Stelle wird berichtet, der Verfasser von Büchern zu staunenswerten Phänomenen menschlichen Verhaltens (gemeint ist Oliver Sacks) habe angefragt, ob er über Tim berichten dürfe. Tim habe sich geweigert. Das hätte er nicht tun sollen, denn ein solches Thema wäre bei Herrn Sacks sicherlich in sachkundigeren Händen gewesen.

Denn dieses Buch vermittelt einen fatalen Eindruck: Es werden Erklärungsmuster angeboten. Hätte Tim mehr auf seine psychische Verfassung geachtet, hätte er weniger gearbeitet, hätte er sich mehr um seine Tochter gekümmert, hätte er dies und hätte er das, dann wäre vielleicht alles nicht so schlimm gekommen. Hier wird hinterrücks die Schuld den Opfern zugeschoben. Aber „Schuld“ und ein neurophysiologisches Desaster sollten nicht zusammengebracht werden. Und deswegen fällt es mir auch schwer, diesen Roman als gesellschaftskritisch anzusehen. Diese Krankheit ist keine des ‘Systems’.

Außerdem stört es mich, dass hier der Held mal wieder aus der upper class kommt. Die Sache mit der antiken Fallhöhe sollte sich doch nun wirklich erledigt haben.

Neben der Laienhaftigkeit, mit der hier von der Medizin gesprochen wird, von der Psyche und vom alltäglichen Leben eines Top-Anwalts sollte aber auch festgehalten werden, dass der Autor dann gut ist, wenn er direktes Geschehen wiedergibt. Dann ist er anschaulich und fesselnd. Aber zu einem guten Roman gehören auch erzählerische Ideen.

29.01.2011