Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein

Eine Neuausgabe, für die dem Verlag heftig zu danken ist.

1946 schrieb Fallada in nur vier Wochen diesen Roman, der auf Tatsachen beruht. Natürlich merkt man das dem Text an: die Charaktere sind holzschnittartig und zum Teil überzeichnet, die Fülle der Einzelheiten ist nicht immer klar nachvollziehbar, aber das kann die uneingeschränkte Leseempfehlung nicht schmälern.

Der Mikrokosmos des faschistischen Systems wird ausgeleuchtet: in einer Wohnung, einem Haus, der Polizei, einer Fabrik. Es wird gezeigt, wie dieses System der Angst und der Begünstigungen für die Parteimitglieder die dunkelsten und verachtenswertesten Seiten der allermeisten Menschen hervorbringt, aber auch die starken und nahezu heroischen in einigen wenigen.

Nacherzählt wird die Geschichte eines Ehepaares, dessen einziger Sohn im Krieg stirbt. Damit ist ihr stilles Mitläufertum beendet. Isoliert von anderen Menschen beschließen sie Widerstand zu leisten. Mit all ihrer sprachlichen Unbeholfenheit schreiben sie Karten mit Aufrufen gegen das Nazi-Regime und deponieren diese in belebten Häusern. Sie haben die Hoffnung, dass diese Karten von Hand zu Hand gehen werden, aber sie gehen nur einen Weg, den zur Polizei, denn die Finder haben nichts als Angst, mit einer solchen Karte entdeckt zu werden.

Und damit beginnt die Fahndung, die schließlich zu ihrer Ergreifung und zur Vollstreckung des Todesurteils führt.

Um diesen zentralen Handlungsstrang entfaltet Fallada ein Kaleidoskop von Lebensläufen, die alle von dem jeden Einzelnen einfangenden System des Nationalsozialismus gezeichnet sind. Und darin liegt das Besondere dieses Romans: es ist der zornerfüllte Blick des Überlebenden, der mit akribischer Genauigkeit das zum Leben erweckt, was sich hinter den so harmlos daherkommenden Formulierungen wie NS, Faschismus oder Nazi-Zeit verbirgt. Es ist die für Heutige kaum vorstellbare Intensität, mit der das Leben durchdrungen wird.

Dazu ein Beispiel: Escherich, der Kommissar, der mit den Ermittlungen der Kartenschreiber beauftragt ist, soll den Stand seiner Arbeit dem Obergruppenführer vortragen.

„Zu Befehl, Herr Obergruppenführer, Wenn Herr Obergruppenführer das Protokoll lesen würde?“

„Lesen? Nee, nicht jetzt, später vielleicht mal. Lesen Sie jetzt mal vor, Escherich!“

Aber er unterbrach die Vorlesung nach den ersten drei Sätzen. „Wollen doch erst noch mal einen genehmigen. Prost, Escherich! Heil Hitler!“

„Heil Hitler, Herr Obergruppenführer!“

Und nachdem er ausgetrunken hatte, fing Escherich wieder mit dem Vorlesen an.

Aber nun war dem alkoholisierten Prall ein neckisches Spiel eingefallen. Immer, wenn Escherich drei, vier Sätze gelesen hatte, unterbrach er ihn mit einem „Prost!“ und Escherich musste, nach er auch geprostet hatte, wieder von vorn anfangen. Nie ließ Prall ihn über die erste Seite hinauskommen, schon unterbrach er ihn mit einem neuen „Prost!“. Er sah wohl – trotz all seiner Besoffenheit -, wie es in dem Manne arbeitete, wie das scharfe Getränk ihm widerstand, dass er zehn Mal die Lust hatte, das Protokoll hinzulegen und fortzugehen (so leck mich doch am Arsch!), und wie er es nicht wagte, weil der andere eben der Vorgesetzte war, wie er kuschen musste, sich den Zorn nicht anmerken lassen durfte…

„Prost, Escherich!“

„Danke gehorsamst, Herr Obergruppenführer! Prost!“