Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg

Bildungslückengalopp

„Roman“ steht auf dem Titelblatt und so las ich denn auch die Geschichte des Münsteraner Philosophieprofessors, der eines Abends einen veritablen Löwen in seinem Arbeitszimmer vorfindet, als pure Fiktion und genoss die präzise und hintergründig humorvolle Sprache der Autorin. Erst allmählich beschlich mich angesichts der Schilderung akademischer Gepflogenheiten des Herrn Professors der Verdacht, dass es sich vielleicht doch nicht nur um eine fiktive Gestalt handeln möge. Ein Blick ins www machte Bildungslücke Nr. 1 offenbar: Blumenberg war ein höchst lebendiger Professor in Münster. Es dauerte eine Weile intensiver und lustvoller Lektüre, war ich doch weiter fasziniert von der Löwen-Erfindung der Autorin:

Blumenberg wusste sofort, dass hier viel falsch zu machen war; abwarten und die Fassung behalten. Er wusste auch, dass in Gestalt des Löwen eine außerordentliche Ehre ihm widerfuhr, gleichsam eine Ehrenmitteilung des hohen Art war überbracht worden, von langer Hand vorbereitet und nach eingehender Prüfung ihm gewährt. Man traute Blumenberg offenbar zu, dass er in seinem schon etwas höheren Alter leichterdings damit fertig würde.
Kurios war nur, dass vom Löwen gar nichts Undeutliches, Verschwebtes und Luftatomvermischtes ausging; seine Umrisse zitterten nicht im Her und Hin der wellendurchlaufenden Gedanken Blumenberg; es blitzten keine löwenköpfigen Spiegelneuronen und bewimmelten das kristalline Geflirr einer Halluzination. Der Löwe war da. Habhaft, fellhaft, gelb.
Obwohl er sich selbst ermahnte, ein unerschütterliches Vorbild der Ruhe abzugeben, raste sein Herz. Ein Löwe! Ein Löwe! Ein Löwe!

Selbstverständlich begleitet der Löwe auch die Vorlesungen des Philosophen. Und gar köstlich ist, seinen professoralen Ausführungen über die Macht des Konjunktivs zu folgen. Natürlich ist es dem Auditorium nicht beschieden, den Löwen zu sehen. Das können nur Blumenberg, die Leser und eine tatkräftige Nonne.
Mittlerweile neugierig geworden auf den realen Philosophen, ergeben weitere Internet-Recherchen, dass auch der erkenntnisfördernde Löwe keine ureigene Erfindung der Autorin ist, denn in der Literaturliste findet sich: „Hans Blumenberg: Löwen“ und der Suhrkamp Band ist bald auf dem Weg zu mir, um Bildungslücke Nr. 2 zu schließen. Die Romanlektüre geht derweil weiter und offenbart manche Erkenntnis über den Löwen als Symbol und Metapher in Kultur- und Religionsgeschichte. Und so ist es auch der Löwe, der den Philosophen bis in seine „gebrechliche Letztzeit“ begleitet, die so endet: „Da hieb ihm der Löwe die Pranke vor die Brust und riss ihn in eine andere Welt.“

Unterbrochen ist die Geschichte des Löwen-Professors von den erschröcklichen, weil mit vielfältigen Todesformen garnierten Geschichten einiger seiner Studenten. Hier führt die Autorin die Nachtgedanken des Professors fröhlich aus:

Er dachte an eine Mappe, eine ganz besondere schwarzgeriffelte Mappe mit der Aufschrift 'Was ist das Allerletzte?‘ Darin verwahrte er seine Sterbeskizzen. Eher in leichtem, gewitztem Ton, nicht mit Schwere zu Papier gebracht, enthielt die Mappe seine Phantasien über die Art, wie Menschen starben. Menschen, die er persönlich kannte, und Figuren, die ihm aus dem öffentlichen Leben geläufig waren, eine Spekulation über ihre letzte Sunde, die zum Zeitpunkt der Abfassung noch nicht eingetreten war.

29. März 2013