Amos Oz: Verse auf Leben und Tod

Grabbeltisch

Seit einiger Zeit gibt es in Bocholt die Mayersche Buchhandlung. Normalerweise finden sich dort nur die massenhaft verkäuflichen Bestseller. Aber kürzlich gab es einen Grabbeltisch und dortselbst wurde Literatur verramscht, die in einer solchen Massenbuchhandlung nur irrtümlich gelandet sein kann. So also auch ich am Grabbeltisch.

Der Autor ist der bekannteste zeitgenössische israelische Schriftsteller und er beschäftigt sich mit der immer wieder neu gestellten Frage nach dem Verhältnis von Schreiben und Leben. Und so präsentiert der Erzähler einen Autor, der sich auf dem Weg zu einer Lesung befindet. Er kennt schon vorher all die Fragen, die man ihm stellen wird und er entgeht seiner Langeweile mit seiner Marotte oder genauer mit seiner Besessenheit, zu den Personen, die ihm über den Weg laufen, auch gleich eine Geschichte zu erfinden. Kaum sieht er auf dem engen Rock einer Kellnerin die unterschiedlich hohen Säume ihres Slips abgezeichnet, hat er sie auch schon in einem Hotelbett und betrachtet ihr Treiben mit einem jungen Mann. Diese Fähigkeit des Schriftstellers erscheint zuerst als Marotte, aber wenn sie immer wieder durchexerziert wird und jeder Mensch zur Vorlage einer Romanfigur wird, erscheint es wie eine Besessenheit, nicht die Realität wahrnehmen zu müssen, sondern sie nur als Auslöser für das literarische Innenleben benutzen zu können.

Mit sechzehn oder siebzehn […] schloß sich der Schriftsteller nachts allein in einen verlassenen Schuppen ein, um schriftliche Ergüsse verrückter Geschichten ohne Anfang oder Ende auf Papier festzuhalten. Er schrieb so, wie er träumte oder onanierte, aus einer Mischung von Zwang, Begeisterung, Verzweiflung, Ekel und Schmerz. Damals bemühte er sich hartnäckig um ein Verständnis dafür, warum die Menschen sich gegenseitig ständig Leid zufügen, warum sie sich selbst Leid antun, obwohl sie es gar nicht wollen.

Seine Neugierde ist immer noch groß, aber im Laufe der Jahre hat sich eine Angst entwickelt, mit Fremden in Berührung zu kommen: Selbst zufälliger Körperkontakt erschreckt ihn. […] Und trotzdem beobachtet er sie weiterhin, schreibt über sie, um sie zu berühren, ohne sie zu berühren, damit sie ihn berühren, ohne ihn wirklich zu berühren.

Weil die Addition erfundener Lebensläufe und Situationen noch keinen Roman ergibt, wie der jugendliche Schriftsteller es vielleicht ahnt, gibt es in diesem Roman dann doch die Berührung, eine kurze Liebesnacht voller Versagen und Missverständnissen, aus der der Schriftsteller wieder in seine nächtliche Welt hinausgeht um mit den Figuren zu leben, deren Geschichten er im Laufe des Tages erfunden hat. Diese Figuren äußern immer wieder Sprichwörtliches, das angeblich aus dem Buch „Verse auf Leben und Tod“ des unbedeutenden, aber „bekannten Schriftstellers Zefanja Beit-Halachmi” stammt. Fräulein Google hat gerade meinen letzten Zweifel daran genommen, ob es diesen Schriftsteller wirklich gegeben hat.

Scheint es im Roman noch klar zu sein, dass der Leser unterscheiden könne zwischen dem, was der Schriftsteller in jener Nacht erlebt und dem, was er ersinnt, so zeigt der letzte Satz, dass diese Unterscheidung auch nicht stimmt, denn:

… in der Abendzeitung, die mich neben meinem Bett erwartet hat, lese ich, daß der Dichter gestern am frühen Morgen in Ra’anana im Alter von siebenundneunzig Jahren an einem Herzschlag gestorben ist. Manchmal lohnt es sich wirklich, das Licht anzumachen, um herauszufinden, was passiert.

Und so weiß der Leser, dass er auch dem hellsten Romanlicht nicht trauen darf.

Ein guter Roman, sicherlich, der mich aber überhaupt nicht mitreißen konnte. Zu einem sicherlich deshalb, weil mir das Geschichtenerfinden zu routiniert, zu schnell und zu plakativ geschieht. Aber viel mehr noch stört mich die Abwesenheit von Humor.

Und wenn ein Autor sich an einen vielbearbeiteten Topos der Literatur macht, muss er sich messen lassen mit vielen anderen. Und wenn ich diesen Roman zum Beispiel vergleiche mit dem „Lied von Schein und Sein“ mit seinem grandiosen Eingangsdialog, dann weiß ich, dass ich Nooteboom vorziehe.

16.02.2011