Die Autorin ist eine in Kanada lebende Vietnamesin. Sie ist tief verwurzelt
in der vietnamesischen Kultur, aber sie nimmt sie nicht als das selbstverständlich
Normale, sondern kann sie durch die kanadische Brille auch als das Fremde
betrachten. Das ist eine Voraussetzung für diesen Roman. Die andere ist,
dass hier eine sehr bewusste Schreiberin am Werk ist, die sehr präzise
Szenen gestaltet, aus denen der Leser seine Folgerungen ziehen kann. Und so
ist hier auch kein Roman im herkömmlichen Sinn entstanden, sondern eine
Reihe von Bildern, die ohne feste Chronologie sowohl in Vietnam wie in Kanada,
später auch in Europa spielen und allmählich eine Biographie der
Ich-Erzählerin enthüllen. Darin spiegeln sich die Widersprüche
Vietnams, das zerrissen war zwischen der nationalen Identität, der französischen
Besatzung und den Kommunisten des Nordens und dem Krieg.
In diesen Miniaturen verbirgt sich unter der Oberfläche des Erzählbaren,
das meist ein zunächst leichtes Bild ergibt, viel von dem unnennbaren
Schrecken, der sowohl das Leben in Vietnam jener Zeit ausmachte wie auch das
Leben in der Fremde, die erst allmählich zu einer neuen Heimat wird.
So ist es für die Erzählerin ein langer Weg, aus einem ertragenen
Leben als Ehefrau und Mutter zu einem Leben zu finden, dass Liebe und Emotionen
zulässt.
Am nächsten Morgen machte ich den Kindern wie jeden Morgen Frühstück, so leise wie möglich, um meinen Mann nicht zu wecken, der den Morgen lieber alleine in Ruhe verbringt. Wie jeden Morgen gab ich ihnen auf der Türschwelle ihre Lunchbox, doch diesmal fühlte ich, wie Lucs Hand mich oben am Rücken streichelte, damit ich mich zu ihnen hinunter beugte und sie küsste, wie er es getan hätte, wenn er hier gewesen wäre, wie er es bei seinen eigenen Kindern jeden Morgen tat.
Am übernächsten Tag steckte ich in die Verpackung der Sandwiches eine kleine Nachricht wie die, mit der Luc jede E-Mail an mich unterschrieben hatte: „Ich liebe dich, mein Engel“.
Seither kämme ich die Haare meiner Tochter so zärtlich, wie Luc meine liebkoste, creme meinem Sohn den Rücken ein und streichle die Haut an seinem Nacken.
Darin wird deutlich, wie stoisch ein Leben ertragen werden
kann, ohne seinen Gefühlen irgendeine Berechtigung zu verleihen. Eingebunden
in Pflichten und einen bestimmten Platz im Leben dürfen die Schrecknisse
keine Übermacht gewinnen, sondern müssen unter der Oberfläche
bleiben, damit ein Leben gelebt werden kann. Und das spiegelt sich auch in
der Darstellungsweise dieses Romans, der deswegen umso eindrücklicher
ist.
Auch wenn es ‚nur‘ 140 gut gestaltete Seiten sind, brauchen sie
Zeit. So erging es der geneigten Leserin, die immer wieder Pausen gemacht
hat, um diese so zarten wie kraftvollen Bilder wirken zu lassen.
Die Liste der Bücher, die ich mehrfach lese, ist nicht lang, aber dieses
Buch gehört dazu.
9. Juni 2014