Ian McEwan Honig


Schwer getan habe ich mich mit den ersten 100 Seiten dieses Romans, denn die Ich-Erzählerin hat zwar die Begabung, in rasender Geschwindigkeit Romane zu verschlingen, aber sie liest alles, was ihr in die Finger kommt und ist bar jeder Urteilskraft über ihre Lektüre.
Sie studiert Mathematik mit mäßigem Erfolg, lieber hätte sie sich mit Anglistik beschäftigt, aber die Mutter beeinflusst sie, nicht noch eine der viel zu zahlreichen arbeitslosen Literaturbegeisterten zu werden.
Über eine Reihe von Männerbekanntschaften gerät sie in Kontakt mit dem Geheimdienst MI5 und wird bald mit dem Projekt 'Honig' konfrontiert. Ihre Aufgabe ist es, einen angehenden Schriftsteller, der sich in den frühen siebziger Jahren antikommunistisch und kapitalismusfreundlich in der Öffentlichkeit geäußert hat, mit Mitteln des Geheimdienstes zu fördern. Das unternimmt sie mit aller Hingabe.
Hier gewinnt der Roman an Schwung. Es wird nicht nur die Absurdität geheimdienstlicher Zielsetzungen und die Konkurrenz der einzelnen Abteilungen untereinander mit süffisanter Ironie ausgebreitet. Genauso breiten Raum nimmt die Liebesgeschichte zwischen dem Autor und Serena, der Ich-Erzählerin, ein. Die ist einerseits problematisch, weil Serena ihre Identität als MI5-Frau verheimlichen muss, andererseits produktiv, weil sie lernt, sich mit Literatur auf neue Art auseinander zu setzen.
Bisher war sie lediglich sehr begabt darin, perfekte Inhaltsangaben ihrer Lektüren zu geben, aber nun beginnt sie nachzudenken:

Hier, auf der achtzehnten von neununddreißig Seiten, gab es vor dem nächsten Absatz einiges Leerzeilen, mit einem einzigen Sternchen darin. Ich starrte es an, damit mein Blick nicht weiterwanderte und mir verriet, was der Autor als nächstes im Sinn hatte.
Es dauert noch etliche Seiten, bis Serena noch anderes klar wird:
Die Stärken der Geschichte lagen woanders. Während ich im Dunkeln auf den Schlaf wartete, streifte mich eine Ahnung davon, was Erfindung war. Als Leserin, als Schnellleserin, setzte ich das als etwas Gegebenes voraus, ich hatte mir über diesen Vorgang nie Gedanken gemacht. Man nahm ein Buch aus dem Regal und hatte eine erfundene, mit Menschen bevölkerte Welt in der Hand, so einleuchtend wie die, in der man lebte. Wie Tom im Restaurant, als er sich über Monty Hall den Kopf zerbrach, glaubte ich nun zu erkennen, worin der Trick bestand, zumindest ansatzweile. Es war so ähnlich wie Kochen, dachte ich schläfrig. Nur dass nicht Hitze die Zutaten verwandelte, sondern reine Erfindung, ein Funke, eine geheimnisvolle Ingredienz. Das Ergebnis war mehr als die Summe seiner Teile.

Und so ist dieser Roman nicht nur einer über die absurde Welt der Geheimdienste mit ihren menschenfeindlichen Begleiterscheinungen, sondern vor allem einer über die Geheimnisse und Offensichtlichkeiten der Literatur.
Ein letzter Brief, der den Roman beendet, gibt davon ein deutliches Zeichen - ein herrlicher Kunstgriff, der hier nicht verraten wird.
Also doch noch ein Lesevergnügen, ein großes sogar.

9. Juni 2014