John Irving: Witwe für ein Jahr

Was für ein Erzähler! Wie immer bei diesem Autor liegt hier eine äußerst handlungsstarke Geschichte vor, die sich kaum in Kürze wiedergeben lässt. Es geht (längst nicht nur) um einen jungen Mann, der für einen Ferienjob in die Familie eines Schriftstellers, der nunmehr Kinderbücher schreibt und illustriert. Dieser lebt mit seiner Frau, seiner Tochter und den Fotografien der beiden toten Söhne in der Nähe von New York in einer ländlichen Kleinstadt. Aus dieser Situation entwickelt der Erzähler Lebenspanoramen über etwa vier Jahrzehnte hinweg. Da nahezu alle Protagonisten in irgendeiner Weise mit Literatur zu tun haben, wird in diesem Roman die Entstehung vieler Bücher begleitet. Und auch an den Lebenserfahrungen und zielgerichteten Recherchen, vor allem im Amsterdamer Rotlichtmilieu, kann der Leser Anteil nehmen. Dadurch entstehen unzählige Handlungsstränge, die niemals in der Luft hängen bleiben, sondern immer wieder auf überraschende Weise zusammengefügt werden. Und so gibt es auch zwar nicht schreibenden, dafür aber umso mehr lesenden holländischen Polizisten Harry, der seine Erwartungen an Literatur so formuliert:

Er las Romane, weil er darin die besten Beschreibungen der menschlichen Natur fand. Die Autoren, die Harry bevorzugte, gingen nie von der Voraussetzung aus, dass sich am Verhalten der Menschen, und sei es noch so übel, etwas ändern ließ. Mag sein, dass sie diesen oder jenen Charakterzug moralisch missbilligten, aber sie waren keine Weltverbesserer. Sie waren Geschichtenerzähler, die überdurchschnittliche Geschichten zu erzählen hatten, und wenn sie gut waren, erzählten sie Geschichten von glaubhaften Figuren. Am liebsten mochte Harry Romane mit kompliziert ineinander verwobenen Geschichten, die von lebensechten Menschen handelten. […]

Harry hatte nichts dagegen, wenn ein Buch witzig geschrieben war, aber wenn der Autor ausschließlich humorvoll (oder bissig) schrieb, war er enttäuscht. Er mochte gesellschaftlichen Realismus, allerdings nicht, wenn es dem Autor völlig an Phantasie fehlte und seine Geschichte zu wenig Rätsel aufgab und den Leser zu wenig fesselte. (Ein Roman über eine geschiedene Frau, die ein Wochenende in einem Hotel am Meer verbringt, wo sie einen Mann sieht, mit dem sie sich eine Affäre ausmalt - ohne dass es dazu kommt; sie fährt einfach wieder nach Hause -, wurde seinem Anspruch an einen Roman nicht gerecht.)

Nun, dieser Harry dürfte sein Bücherregal mit Romanen von John Iriving gefüllt haben und sehr zufrieden damit sein.

24. April 2014